Länderauswahl:
Du wurdest von unserer Mobile-Seite hierher weitergeleitet.

Test - The Great Ace Attorney Chronicles : Noch so Einspruch, Kieferbruch!

  • PC
  • PS4
  • NSw
Von  |  |  | Kommentieren

Was ist da nur los? Die beiden Ableger aus der Ace-Attorney-Reihe mit Namen Adventures und Resolve erschienen bereits 2015 und 2017 auf dem 3DS – allerdings nur in Japan. Erst jetzt finden sie ihren Weg in den Westen und auf die aktuellen Plattformen PC, PS4 und Switch. Jedoch nur auf Englisch und Japanisch, ohne deutsche Übersetzung. Dabei erfreut sich die Reihe anhaltend großer Beliebtheit, genießt einen exzellenten Ruf und unterhält wie eine gute Krimiserie auch in der x-ten Variation des gleichen Schemas.

Die beiden Spiele der Great Ace Attorney Chronicles, die es jetzt zusammen im Paket gibt, erzählen die Geschichte eines Vorfahren des bisherigen Serienhelden Phoenix Wright. Ryunosuke kommt Ende des 19. Jahrhunderts als grünschnäbeliger, japanischer Austauschstudent nach England und wird dort Zeuge einer Zeitenwende: in der Weltgeschichte, im rasant voranschreitenden technischen Fortschritt, aber auch in der Justiz.

Nach Jahrhunderten im Dornröschenschlaf der Abgeschiedenheit öffnet sich das japanische Reich nach außen und nimmt diplomatische Beziehungen zum Westen auf. Das British Empire indes gilt zur damaligen Zeit der viktorianischen Herrschaft als die mächtigste und fortschrittlichste Nation der Welt. Mit den neugierigen Augen des Fremden nimmt der junge Anwalt die Errungenschaften der anbrechenden Moderne wahr: die von Gaslaternen auch des Nachts taghell erleuchtenden Straßen der pulsierenden Metropole London, Grammophone, Fotografien und mechanische Uhren wirken wie Wunder auf ihn. Gleichzeitig erfährt er aber auch die Herablassung einer überheblichen Nation im Angesicht einer damals rückständig wirkenden Kultur.

The Great Ace Attorney Chronicles zeichnet ein staunendes Portrait von der Geburtsstunde des modernen Rechtssystems: Gerichtsprozesse, die den Schuldigen nicht mehr durch Willkürurteile ermitteln, sondern anhand von Zeugenaussagen, Beweisen und Schlussfolgerungen, durch Argument und Gegenargument und das Abwägen der beiden – also genau das, was das Spielprinzip der Serie schon immer ausmachte. Es ist die Zeit, in der wissenschaftliche Methoden in den Prozess der Wahrheitsfindung Einzug halten, die mit chemischen Analysen und technischen Hilfsmitteln wie Fotografie und Vergrößerungsgläsern die Ursprünge der heutigen Forensik markieren. Selbst das Nehmen von Fingerabdrücken wirkt auf die Zeitgenossen von Ryunosuke wie wahrgewordene Science-Fiction. Scotland Yard und seine Ermittlungsmethoden werden zum Vorbild für moderne Polizeiarbeit auf der ganzen Welt.

„Nichts ist trügerischer als eine offenkundige Tatsache“ (Sherlock Holmes)

Wie schon seine Vorgänger sind auch die Abenteuer der Great Ace Attorney Chronicles um jeweils fünf abgeschlossene Kriminalfälle herum entworfen (insgesamt also zehn), in denen ihr Tatorte inspiziert, Zeugen vernehmt und schließlich im Gerichtssaal Widersprüche in deren Aussagen aufdeckt, um schlussendlich die Wahrheit zu enthüllen, euren (unschuldigen) Mandanten zu entlasten und den wahren Täter zu überführen. Und wie ebenfalls schon in den Vorgängern mögen die einzelnen Fälle zwar in sich abgeschlossen sein, spinnen aber gemeinsam einen roten Faden zu einem größeren Muster, das sich zu einer übergeordneten Geschichte verstrickt und irgendwann gar Ausmaße annimmt, die die eine Hälfte der Spieler mit der Vokabel "episch" bezeichnen werden, die andere Hälfte sie womöglich irgendwann nur noch als konfus und kaum mehr nachvollziehbar wahrnimmt.

Angesichts von sechs bis 15 Stunden Spielzeit pro Fall kommt das Gesamtpaket auf eine fürs Genre exorbitante Dauer von gut und gerne an die 100 Stunden, was einerseits unfassbar viel Spiel fürs Geld ist. Andererseits aber auch einfach nur viel, viel zu viel. Zumal man alle Fälle möglichst lückenlos am Stück hintereinanderweg spielen sollte, da es sonst kaum noch möglich ist, den zahlreichen Handlungsfäden und verwobenen Zusammenhängen zu folgen.

Spielerisch folgt das Spin-off dem Ablauf, für den die Serie bekannt ist und der auch 20 Jahre nach dem ersten Teil immer noch als einzigartig gelten darf. Ace Attorney bildet in diesem Sinne ein Phänomen, weil es ihm gelungen ist, narrative Spiele völlig neuartig zu denken, indem es den Spieler nicht zum Jäger und Sammler von Inventargegenständen verdonnert, sondern die Geschichte selbst zum Spielbrett macht, auf dem Spieler und Figuren gleichermaßen agieren. Eure Aufgabe besteht darin, Widersprüche, Unstimmigkeiten oder dreiste Lügen auszumachen und diese anhand von Beweisen zu widerlegen.

Der Handlungsablauf dafür folgt seit jeher dem ungefähr gleichen Schema: Für gewöhnlich scheint der Fall zu Beginn völlig eindeutig zu liegen. Ein Passagier wurde an Bord eines Schiffes ermordet. Die Tür war von innen abgeschlossen, und der Tote hat zu allem Überfluss auch noch mit seinem eigenen Blut einen eindeutigen Hinweis auf seinen Mitreisenden auf den Boden geschrieben, der sich als einzige Person zum Tatzeitpunkt in der Kabine befunden haben kann. Klarer Fall also. Aber eben nur scheinbar …

Denn der Mitreisende war ein blinder Passagier und versteckte sich im Schrank, den er unmöglich selbst von außen geschlossen haben konnte. Doch wenn sonst niemand im Raum war, wer ist dann der Mörder? Vielleicht die Schlange des Zimmernachbarn, die durch den Ventilationsschacht gekrochen sein könnte? Das muss es sein! Aber was bedeutet dann die mit Blut geschriebene Nachricht des Opfers auf dem Boden? Denn wie der Autopsiebericht erklärt, war der Ermordete durch Genickbruch sofort tot. Er kann also danach wohl kaum noch etwas aufgeschrieben haben. Noch dazu auf Russisch, wo er dieser Sprache gar nicht mächtig ist, wie sich herausstellt. Sollte sich doch jemand Zutritt verschafft haben? Doch wie, wenn die Tür doch von innen verriegelt war? Möglicherweise kennt die Besatzung des Schiffes noch andere Möglichkeiten, die Türen auch von außen zu öffnen …

Wie an dem kurz umrissenen Beispiel zu sehen ist, nehmen die Fälle wie schon in den Vorgängern typischerweise in ihrem Verlauf mehrere 180-Grad-Drehungen. (Der japanische Originaltitel der Reihe heißt übersetzt ungefähr „Wendungen im Gerichtsverfahren“.) Auf jeden vermeintlichen Durchbruch folgt erstmal ein herber Rückschlag, der wieder gedreht werden muss, bis sich irgendwann die Glaubwürdigkeit der Handlung geradezu schwindelig um die eigene Achse gezwirbelt hat und mitunter hanebüchene Ausmaße annimmt. Nicht selten fühlt man sich an die seligen Zeiten erinnert, als sich bei Barbara Salesch stets auf haarsträubende Weise der Deus ex Machina aus dem Publikum zu Wort meldete und aus heiterem Himmel die Dinge klarstellte.

Ganz offensichtlich gehorchen die Geschichten in erster Linie einer dramaturgischen und spielerischen Logik und keiner des gesunden Menschenverstandes. Oder ordentlicher Verfahrensregeln. Dass Gerichtsprozesse schon wenige Stunden nach der Tat ohne die Zeit zu einer gründlichen Vorbereitung stattfinden, Beweisstücke regelmäßig verheimlicht und erst während des laufenden Verfahrens aus dem Hut gezaubert werden und Akteneinsicht grundsätzlich nicht gewährt wird, gehörte schon immer zum kurios unrealistischen Repertoire der Serie, das einfach akzeptiert werden muss und letztlich ihren skurril-schrulligen Charme überhaupt erst ausmacht.

Genau wie die überkandidelten Charaktere, die mit ihren bizarren Marotten traditionsgemäß einen Großteil zum Unterhaltungswert des Spiels beitragen: die mondäne Zeugin mit einem monströsen, ausgestopften Schwan auf ihrem Kopf, der Scotland-Yard-Beamte, der in jeder Lebenslage eine Tüte Fish & Chips bei sich trägt, oder die beiden Ganovenbrüder, die sich einbilden, der Polizist, der sie verhaftet hat, sei ihr verloren geglaubter Drilling. Und wie es ebenfalls für japanische Spiele typisch ist, hat man sie am Ende derartig ins Herz geschlossen, dass man sie nicht mehr als Nebenfiguren wahrnimmt, die eine Geschichte schultern, sondern als Freunde, mit denen man eine wunderschöne Zeit verbracht hat.

„Für einen großen Verstand ist nichts zu klein.“ (Sherlock Holmes)

Allen voran die Clique um Sherlock Holmes, pardon: Herlock Sholmes, die im Oberstübchen ziemlich verhuschte Ausgabe des großen Meisterdetektivs, der euch hin und wieder während des Abenteuers zur Seite steht und bei einer der wenigen spielerischen Neuheiten im Mittelpunkt steht: dem Spektakulum der Deduktion.

>> Geniale Spiele, die keiner gekauft hat: 10 Spiele, die mehr Liebe verdient haben <<

Denn Sholmes hält sich wie sein literarisches Vorbild für ein Genie darin, logische Schlüsse aus winzigen Beobachtungen zu ziehen und daraus aufschlussreiche Erkenntnisse abzuleiten. Nur dass er selbst eine ziemliche Niete in dieser Disziplin ist und darum jedes Mal von euch erst mehrfach korrigiert werden muss, bevor seine Ausführungen einen Sinn ergeben. Jene Szenen sind durch schnelle Kamerafahrten mit einer solchen Lässigkeit und Verve inszeniert, dass sie von den Entwicklern den treffenden Beinamen „Tanz der Deduktion“ erhielten und dem ansonsten recht statischen Spielablauf mit seinen Standgrafiken und Sprechblasen eine höchst willkommene Dynamik verleihen.

Wie generell die Grafik durch flüssig animierte, dreidimensionale Polygoncharaktere statt strammer Zeichentrickfiguren stärker als in den Vorgängern das Gefühl vermittelt, einen interaktiven Anime zu erleben, statt lediglich in einem Comicbuch zu blättern. Wer sich allerdings nach Betrachtung des Trailers eine durchgehend schicke Präsentation im Stile eines Zeichentrickfilms erhofft hat, dem sei gesagt: Nope, Great Ace Attorney Chronicles ist durch und durch die Umsetzung eines 3DS-Spieles aus dem Jahr 2015 und keine zeitgemäße Neuinterpretation.

„Wo es keine Vorstellungskraft gibt, gibt es kein Grauen.“ (Sherlock Holmes)

Trotz dezenter Neuerungen stellt The Great Ace Attorney Chronicles über weite Strecken natürlich das exakt gleiche Spiel dar, wie man es aus den Vorgängern kennt, nur eben mit neuen Kriminalfällen und ansonsten allen Vor- und Nachteilen, die naturgemäß im x-ten Teil einer Reihe störender ins Gewicht fallen. So stieß das Spielprinzip schon in den vorherigen Teilen bei fortschreitendem Spielablauf zusehends an seine Grenzen, wenn sich in einer Zeugenaussage keine offenkundigen Widersprüche mehr erkennen lassen, sondern erst jeder einzelne Satz hinterfragt werden muss in der klammen Hoffnung, die befragte Person verhaspele sich beim anschließenden Wortgeplänkel schon irgendwie, irgendwann. In solchen Momenten beginnt dann auch die ausschweifend redselige Erzählweise nach Visual-Novel-Art allmählich an den Nerven zu zerren. Regelmäßig vergehen 15 Minuten oder mehr mit Dialogen, bis ihr endlich mal wieder eine vereinzelte Aktion ausführen dürft.

The Great Ace Attorney Chronicles - E3 2021 New Features Trailer

Capcom hat auf der E3 einige der neuen Features in The Great Ace Attorney Chronicles näher vorgestellt.

Auch die Qualität der Geschichten schwankt wie schon in den Vorgängern mitunter stark. Bereits der allererste Fall wirkt stellenweise so hanebüchen konstruiert, dass es schwerfällt, die logischen Widersprüche in den Zeugenaussagen von Inkonsistenzen in der Handlung zu unterscheiden. In einem Spiel, dessen gesamtes Prinzip darauf fußt, Logiklöcher im Plot zu stopfen, sollten sie wenigstens in der Story fehlen. Aber wer die Vorgänger kennt, weiß wiederum: auch das gehört irgendwo zum schrullig liebenswerten Charme der Reihe.

Kommentarezum Artikel