Special - Kommentar: Ein bisschen mit Gefühl : Mehr Emotion in Videospielen, bitte
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Die Gemüter laufen heiß nach dem Ende von Mass Effect 3. Nein, keine Sorge, wie spoilern hier nichts, ihr könnt den ganzen Artikel ohne Furcht lesen. Tausende von Spielern machen ihrer Unzufriedenheit Luft. Dabei sind schlechte Enden doch gar nicht so ungewöhnlich in der Spielewelt – eher im Gegenteil. Warum schlagen ausgerechnet bei diesem Spiel die Wellen so hoch? Sollte es etwa sein, dass einige Entwickler die Masse der Spieler doch ein wenig unterschätzen? Gibt es da vielleicht Aspekte, die bisher nur wenige Entwickler erkannt und erst recht nicht umgesetzt haben?
Wenn wir Videospieler eines ganz bestimmt gewohnt sind, dann die Tatsache, dass Spiele als erzählendes Medium eine, nun ja, sagen wir mal: untergeordnete Rolle spielen. Oder um es deutlicher auszudrücken: Weit über 90 Prozent der Geschichten, die sich hinter Videospielen verbergen, kann ein geistig minderbemittelter Schimpanse mit drei Promille ohne Stift auf ein Blatt Klopapier schreiben. Was nicht selten daran liegt, dass keine vernünftigen Schreiber engagiert werden, sondern ein Haufen Entwickler, die viel zu selten das Tageslicht sehen, ihre „coolen“ Ideen in einen Topf werfen und daraus eine Handlung köcheln. Das ist dann so, als ob Bürohengst Hansi Müller mit seinen Kumpels aus der Kantine mal einen auf Klempner macht und brav das Wohnzimmer flutet.
Eine weitere Schwäche ist, dass viel zu wenige Entwickler in der Lage sind, so etwas wie glaubwürdige Charaktere auf den Bildschirm zu zaubern. Die stammen meist aus der Klischeehölle, vom Ex-CIA-Agenten über den Küchenhelfer, der perfekt mit Uzi und Sturmgewehr umgehen kann, bis zum einsamen Waisen, der irgendwann zum strahlenden Helden wird, weil natürlich königlicher oder gar göttlicher Lebenssaft in seinen Adern gluckert. Glatt, geleckt und profillos. Glaubwürdigkeit? Charakterentwicklung? Persönlichkeit? Wozu, wenn es immer wieder Titel gibt, deren Verkaufszahlen die Verbreitung stereotyper Spielhelden rechtfertigen. Selbst C-Promis wie Micaela Schäfer oder Madame Katzenberger klatschen das Gros der Videospielcharaktere in Sachen Profil mit links an die Wand. Doch die Anzeichen mehren sich, dass diese Oberflächlichkeit nicht mehr lange funktionieren wird.
Emotion schürt Diskussion
Die Diskussion um das Ende von Mass Effect 3 ist eigentlich das beste Zeichen dafür. Immerhin benehmen sich Tausende von Spielern, als ob gerade ihr Smartphone samt Adressbuch und Fotosammlung der gesamten weiblichen Bekanntschaft (unbekleidet) ohne Backup in der Kloschüssel versenkt wurde. Wenn diese Diskussion eins zeigt, dann dass es offenbar sehr gut möglich ist, Spieler durch tiefe Charaktere und gute Erzählung emotional nicht nur einzufangen, sondern sie auch emotional zu Höchstleistungen zu animieren. Wenn man sich Mühe gibt. Wir sind dämliche Geschichten und unschlüssige Enden eigentlich ja zur Genüge gewöhnt, doch warum schlagen ausgerechnet hier die Wellen so hoch? Weil das Spiel uns gepackt hat. Weil uns die Charaktere am Herzen liegen. Weil dieses Universum uns eingefangen hat und uns nicht mehr loslässt. Wir lieben Shepard, Liara T'Soni und sogar den hässlichen Grunt. Wir lieben die Erzählweise. Wir lieben die Entscheidungen. Wir leiden mit, wenn einer unserer innig geliebten Begleiter, der uns über drei Spiele zur Seite stand, ins Gras beißt. Und wir wollen wissen, was aus ihnen wird, wenn die Reaper besiegt sind.
Das haben bisher wahrlich nicht viele Spiele geschafft. Nicht zuletzt weil bisher auch nur wenige Spiele das Wagnis eingegangen sind, Charaktere so intensiv zu zeichnen und sie uns über so einen langen Zeitraum an die Seite zu stellen mit all ihren Stärken und Schwächen. Stattdessen bekommen wir muskelstrotzende Knarrenträger oder knackarschige Heldinnen im engen Leder-Suit, was eigentlich nur bei Catwoman wirklich verzeihlich ist. BioWare ist das Wagnis eingegangen, einen Schritt weiterzugehen und den Muskeln und Hintern Persönlichkeit zu verpassen und hat – zumindest über weite Strecken – damit haushoch gewonnen, und das obwohl bei Weitem noch nicht alles perfekt ist. Vor allem für viele das Ende nicht. Nicht schlecht, aber da geht noch mehr. Doch das verzeihe ich BioWare, denn sie lernen ja noch. Und auch wenn derzeit Schimpf und Schande über die Kanadier verschüttet werden, eigentlich haben sie viel richtig gemacht und unbewusst eine Diskussion entfacht, die vielleicht noch sehr wichtig und inspirierend für die Welt der Videospiele sein kann.
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