Test - Ghostrunner : Genial: Super Meat Boy trifft Mirror‘s Edge
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Stellt euch eine bizarre Mischung aus Super Meat Boy, Mirror‘s Edge und Superhot vor, verpackt in ein stylisches Tech-Noir-Drumherum mit düsterer Zukunftsvision. Diese Beschreibung trifft den Nagel beim Indie-Spektakel Ghostrunner auf den Kopf, untergräbt aber einen wichtigen Fakt: gegen Ghostrunner wirkt Super Meat Boy wie ein Casual-Spiel im Kleinkind-Modus.
Ein typischer Anlauf in Ghostrunner sieht wie folgt aus: Laufen, hüpfen, hier ein Wallrun, da ein Wallrun, huch, ein ballernder Gegner – tot. OK, noch einmal: Laufen, hüpfen, zwei Wallruns – ist klar, aber diesmal wisst ihr, wo der Gegner steht. Trotzdem tot ... uuuund von vorne. Laufen hüpfen, Wallrun, Gegner, geplantes Ausweichmanöver - und wieder tot.
Nein, der besagte Gegner ist kein Obermotz. Er gehört nicht einmal zu den talentierteren Widersachern. Er ist ein Weichkeks, unterster Abschaum in der Bösewicht-Liga, und doch trifft das Geschoss aus seiner Pistole euren Ghostrunner mit beinahe hundertprozentiger Gewissheit, so als ob er schon vor dem Schuss wüsste, wo ihr in der nächsten Sekunde hinwollt.
Ist die Heldenfigur, die man hier spielt, wirklich so langsam oder in ihren Bewegungsmustern derart vorhersehbar? Mitnichten, ihr steuert schließlich einen hochentwickelten Cyber-Ninja, der flink wie eine Gazelle durch düstere Plattformwelten sprintet und auf Wunsch für einen Moment auf Zeitlupe schaltet, damit er mitten im Sprung die Richtung wechseln kann. Jeder normale Mensch wäre seinen Talenten hilflos ausgeliefert. Nur haben die Entwickler dieses Spiels leider das Memo nicht gekriegt, in dem steht, dass Menschen im Normalfall weder in der Lage sind, bewegliche Ziele mit Schüssen aus der Hüfte zu treffen, noch dass es ihnen an hellseherischen Fähigkeiten fehlt.
Zeitlupenfunktion? Im Sprung die Richtung ändern? Pah, das nutzt eurem Super-Ninja-Roboter überhaupt nichts! Selbst wenn ihr euren Sprungwinkel entgegen jeder Physik ändert, weiß die Gegner-KI immer, wo ihr hinwollt. Die einzige Überlebenschance eröffnet sich somit nur anhand des Zeitpunkts einer Zeitlupen-Aktion. Weicht der Ghostrunner erst in dem Moment aus, in dem das tödliche Projektil bereits unterwegs ist, habt ihr immerhin eine Fifty-fifty-Chance, so nah an den Bösewicht heranzukommen, dass ihr ihn mit seiner bevorzugten Waffe – einem Katana – umsäbeln könnt.
Fifty-Fifty? Nach so viel Taktik und Geschicklichkeit klingt das nach einer schwachen Ausbeute, aber in Ghostrunner muss man für diese Ratio noch dankbar sein. Sie schrumpft rapide, wenn ein weiterer Bösewicht in der Umgebung steht. Es ist also gut möglich, dass ihr den einen Gegner umsäbelt und eine Sekunde später von einem anderen erschossen werdet, den ihr nicht einmal entdeckt habt.
Sekündlich grüßt das Murmeltier
Klingt nach Frust oder vielleicht sogar nach Gameplay-Masochismus, nicht wahr? Ist es auch, gewissermaßen. Aber weil Ladezeiten komplett fehlen, bleibt oft keine Zeit, sich zu sehr zu ärgern. Ihr werdet schnell feststellen, wie der sofortige Neueinstieg beim letzten Checkpoint eure schlechte Laune in Trotz verwandelt. Typisches Durchhaltegemurmel der Marke „jetzt schaff ich‘s aber“ und „na komm, ein Versuch noch“ überbrücken problemlos längere Sitzungen, bei denen ihr innerhalb von 30 Minuten gut und gerne 180 Mal sterbt. Ergibt ein Verhältnis von einem Tod alle 10 Sekunden. Diese Zahl ist keine Übertreibung. Ausnahme ist womöglich das erste Level, da werden es nur 80 oder 100 Mal sein. Lässt sich wunderbar nachvollziehen, denn das Spiel zählt mit.
In den Augen der Entwickler sind Lernkurven überbewertet, und Schwierigkeitsgrade sowieso. Es gibt nur diesen einen, der – wenn man ihn denn ändern könnte – den Titel „ich kotz gleich im Strahl“ mit Stolz tragen würde, zugleich aber auch „iiiiich habe Feuer gemacht!!!!“ lauten könnte, denn man fühlt sich wie ein junger Gott, wenn man eine der stetig komplexer werdenden Kampfszenarien meistert. Und genau davon lebt Ghostrunner. Dieses Spiel staut in euch so viel Frust und Zweifel an, dass jeder Erfolg eben jene negative Energie in einen Freudentaumel verwandelt. Speedrunner auf YouTube werden dieses Spiel vermutlich bis zum Sanktnimmerleinstag ausschlachten, um vor euch mit ihren „k1ll0r 5k1llz“ zu prahlen.
Aber warum auch nicht? Schneidet man die vielen Fehlversuche aus dem Konzept, so führt Ghostrunner in einen endlosen Rausch aus blitzschnellen Bewegungen und geradezu unmenschlicher Präzision, der schon beim Zusehen fesselt. Wer langsam und behutsam vorgeht, verliert. Ihr müsst euch angewöhnen, nie stehenzubleiben, immer nach vorne zu preschen und alles in die Waagschale zu legen, was ihr habt. Ihr werdet euch schnell vorkommen wie ein Kolibri auf Speed, was wiederum den Rausch verstärkt. Ist eine Sache der Eingewöhnung, wird aber irgendwann zur normalen Vorgehensweise.
Einen Vorgeschmack darauf gönnen euch einige Geschicklichkeitspassagen, die ohne Gegner auskommen. Hier sollt ihr endlos viele Wallruns hintereinander meistern, per Enterhaken über klaffende Abgründe schwingen und an anderer Stelle per Rutsch-Move schräge Plattformen hinuntergleiten, um genügend Schwung für einen weiten Sprung zu holen. Solche konfliktfreien Unterbrechungen schrumpfen die Overdown-Ratio gehörig, mutieren aber keinesfalls zum Kinderspiel. Betrachtet sie als angenehme Verschnaufpausen, zu denen auch ein paar eher simple Puzzleaufgaben und Schalterrätsel gehören.
Neue Talente, neue Gegner
Die Motivationskurve in diesem Spiel droht natürlich immer wieder abzuflachen, weil ständiges Sterben aufgrund abnormal hoher verlangter Präzision Ermüdung und Übersättigung provoziert. Dem wirken neue Spielelemente entgegen, die immer gerade dann präsentiert werden, wenn ihr glaubt, die Schnauze voll zu haben. Gegner mit Energiebarrieren, deren Quelle zerstört werden muss, dicke Brocken, die man Aufgrund ihrer Schilde nur von hinten angreifen kann, sprungfreudige Nahkämpfer und viele weitere Varianten garantieren einen stetigen Adaptionsprozess. Ihr habt keine Zeit, euch auf ein Muster einzuschießen, zumal auch die Räumlichkeiten, in denen ihr kämpft, alle naselang neue Herangehensweisen verlangen.
In der Regel beginnt ein Anlauf mit der Analyse des Schlachtfeldes – learning by dying. Nach ein paar Toden weiß man, wie man tiefer in das Szenario eindringt und legt eine vorläufige Strategie an. Minimale Abweichungen bei Erfolgen und Fehlschlägen zwingen zum Überdenken jener Strategie, bis irgendwann die Situation absolut klar ist und „nur noch“ fehlende Geschicklichkeit ein Fortschreiten verhindert.
Wobei gelegentlich eingestreute Zusatztalente wie auch alternative Wege die Anzahl der strategischen Varianten erhöhen. Vier begrenzt einsetzbare Sondertalente ermöglichen euch in Notsituationen, durch Schilde zu brechen oder sogar den Geschossen eines Maschinengewehrs zu entgehen. Zumindest temporär, denn wie eingangs erwähnt, scheinen alle Gegner über hellseherische Fähigkeiten zu verfügen. Sie sehen somit auch den Einsatz dieser Sondertalente voraus und reagieren entsprechend. Je weiter das Spiel voranschreitet, desto mehr profitiert ihr von plötzlichen, unberechenbaren, ja für euch selbst zufällig wirkenden Bewegungen und reinen Reflexhandlungen.
Reicht das alles nicht fürs Überleben, so bleibt nur das Neuanordnen des Talentbaumes. Das zugehörige Menü legt sekundäre Talente in Form von Tetris-Steinen an, die ihr in einer Matrix nach eigenem Gutdünken dreht und platziert, solange ihr noch Platz habt, welche unterzubringen. So erhaltet ihr schnellere Nachladeschübe für die Zeitlupenfunktion oder erkennt Gegner anhand eines roten Rahmens leichter. Allerdings werden euch immer deutlich mehr Sekundärtalente angeboten, als ihr im Raster unterbringen könnt, und gewisse Situationen verlangen von euch, ungenutzte Fähigkeiten im Auge zu behalten.
Bestes Beispiel wäre eine Szene, in der euer Ghostrunner an einen Abgrund gerät, an dem zwei Wände zum Wallrun einladen. Allerdings wurden beide unter Strom gesetzt. Der Strom lässt sich abschalten, indem man zwei temporär spendierte Shuriken auf Schalter an den angrenzenden Wänden wirft. Doch die Unterbrechung des Stroms wirkt nur kurzzeitig, daher erreicht man selbst mit den besten Reflexen die gegenüberliegende Seite erst dann, wenn man Sekundärtalente nutzt – etwa für mehrere Zeitlupen-Einsätze.
Controller vs. Maus
Szenen wie diese setzen trotz alledem sehr flinke Reflexe voraus. Außerdem steigt die Überlebenschance mit der Geschwindigkeit, mit der ihr euch umseht. Wir haben die PC-Version für diesen Test herangezogen, was uns ermöglichte, sowohl mit Maus und Tastatur als auch mit einem Joypad zu arbeiten. Beide Steuerungsvarianten haben ihre Vorteile. Joypads eignen sich beispielsweise besser für die Geschicklichkeitseinlagen, weil es einfacher ist, die verschiedenen Buttons zu koordinieren. Allerdings erschienen uns Kampfpassagen am Analogstick nahezu unmöglich, beziehungsweise nur dann lösbar, wenn man die Steuerungsempflindlichkeit im Menü nach oben dreht.
Nur erschwert das manchmal die allgemeine Orientierung, weil langsames Drehen viel Feingefühl voraussetzt. Außerdem verpasst man mit dem Analogstick schnell den richtigen Winkel für die vielen Wallruns, was zu einigen unnötigen Toden führt. Als ob man in diesem Spiel nicht schon genug sterben würde ... Ergo: Maus und Tastatur erleichtern einiges, sind in den Konsolenversionen aber selbstverständlich nicht verfügbar, wodurch diese nochmal schwieriger ausfallen als die PC-Fassung.
Wer die Wahl hat, sollte somit zur PC-Fassung greifen. Auch weil sie dank Raytracing die grafisch schönste Fassung darstellt. Spiegelungen und Farbverläufe der Umgebungslichter wirken hier erheblich schöner als in den Konsolenwelt. Ein kostenloses Upgrade für die Next-Gen-Konsolen ist für 2021 angekündigt. Grundsätzlich gibt es aber auch auf den Konsolen kau Grund zu meckern. Für ein Indie-Spiel fährt Ghostrunner erstaunlich viel Dark-Future-Bombast auf, zeitweise sogar mit abstrakten Shadern für die Darstellung des Cyberspace. Nur ein wenig abwechslungsreicher könnte die Darstellung sein, denn das Setting mit seinen dunklen Metropolen-Schläuchen, die insgesamt etwas zusammenhanglos wirken, nutzt sich mit der Zeit ab.
Ganz im Gegensatz zur Story. Ghostrunners allgemeine Spielgeschwindigkeit hätte bei ständig eingeflochtenen Zwischensequenzen gelitten. Das umgehen die Entwickler durch viele Off-Gespräche per Funk, die in verständliche Happen zerlegt werden und auch nicht wiederholt werden, wenn man stirbt. Die Mär von der bösen Unterdrückerin im Endzeit-Szenario, die den Schöpfer der positiv ausgerichteten Zukunftswelt hinterging, ist zwar nicht neu oder ausufernd, hält aber bei der Stange.
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