Test - Darq : Verstörend schöner Albtraum
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Darq erschien bereits im August 2019 auf dem PC, ging aber seinerzeit in der beginnenden Blockbuster-Saison zwischen Spielen wie Borderlands 3, Gears 5 und Zelda: Link‘s Awakening ein wenig unter. Im Dezember erschien das Hauptspiel zusammen mit den beiden DLCs als Complete Edition für sämtliche aktuelle Konsolen PS4, Xbox One, Switch und jetzt sogar optimiert für Xbox Series X|S und PS5, etwa mit speziellen Performance-Modi und Unterstützung der DualSense-Haptik. Wir nehmen das zum Anlass, um euch dieses außergewöhnliche Spiel nochmal nahezubringen.
Üblicherweise brauche ich eine ganze Weile, um mit einem Spiel „warm“ zu werden. Bevor ich mich zu einer ersten Einschätzung berufen fühle, muss ich dem Spiel Raum zugestehen, mir seine Vision mitzuteilen, sich in seiner Tiefe und seinen spielerischen Möglichkeiten zu offenbaren. Ich muss verstehen, was es mir sagen will und wie ich mich darauf einzulassen habe. Tatsächlich sind es oftmals gerade diejenigen Spiele, die am längsten brauchen, bis es bei mir „Klick!“ macht, denen ich am Ende auch die meiste Wertschätzung entgegenbringe.
Im Falle von Darq hatte ich diesen Moment bereits nach nur einer Sekunde. Ein einziger Blick auf den surrealen Stil und seine handwerklich gekonnte Umsetzung genügte, um mich in das Spiel schockzuverlieben.
Du musst Caligari werden
Darq ist ein Rätselspiel, das euch durch die Albträume eines verängstigten, merkwürdig entstellt scheinenden Jungen jagt. Die Welt ist ausschließlich in Schwarz-weiß gehalten, nur mit einem gespenstisch leuchtenden Blaufilter überzogen, als brenne sich das verzauberte Mondlicht in die Gedanken der armen Seele, die diesen Albtraum gerade träumt.
Little Nightmares ist zweifellos die erste Assoziation, die einem beim Anblick von Darq kommt. Doch Darq ist anders, düsterer, verstörender, abartiger, steht nicht in der oft zitierten surreal-romantischen Kinderbuch-Tradition, wie sie häufig mit Tim Burton in Verbindung gebracht und vom Cover-Artwork des Spiels noch suggeriert wird. Darq stilisiert seine Welt nur punktuell, bleibt ansonsten einem für derlei kleine Indie-Projekte erstaunlich detaillierten Realismus verhaftet, um gerade auf der Schnittstelle zwischen Traum und Wirklichkeit durch den plötzlichen Bruch der beiden seine gezielt verstörende Wirkung zu entfalten: etwa mit einem Mann im Schaukelstuhl, der eine Tuba statt eines Kopfes auf den Schultern trägt und alle paar Sekunden in einem immer hypnotischer werdenden Rhythmus einen dröhnenden Ton daraus bläst, um den Rückstoß zur ruckartigen Fortbewegung zu nutzen.
In diesem Sinne steht Darq näher an Silent Hill und ähnlichen psychologischen Horrorvisionen. Die Szene, in der wir uns durch eine Gruppe blinder, aber tödlicher, entstellter Krankenschwestern winden müssen, zitiert Darq sogar nahezu 1:1 aus dem Vorbild. Eine gefräßige Oma im Rollstuhl, abgetrennte Arme, die zum Festhalten von Schaltern eingesetzt werden müssen, plötzliche Schreckmomente mit einem seltsamen Jungen mit einer Papiertüte über dem Kopf, der womöglich das Traumabbild unseres traumatisierten Selbst darstellt – die Schauerbilder, die Darq einsetzt, entspringen allesamt dem Kanon vergleichbarer Horrorspiele, doch wissen die Entwickler sie stets als Tropen und nicht bloß als Klischee einzusetzen.
Darq steht stilistisch ohnehin viel eher in einer ganz anderen Tradition, nämlich der des expressionistischen Stummfilms der 20er Jahre des letzten Jahrhunderts, etwa Das Cabinet des Dr. Caligari, Nosferatu oder Das Wachsfiguren-Kabinett, in denen die Übergänge zwischen Traum und Wirklichkeit, verzerrter Wahrnehmung und Einbildung fließend waren und am Ende kaum noch unterschieden werden konnten. Was uns als Realität erscheint, so könnte auch das Motto von Darq lauten, ist immer nur das Produkt eines kranken Geistes.
Eine Symphonie des Grauens
Hätte ich mich nicht nach einer Sekunde bereits in den Stil des Spiels verliebt, es wäre spätestens 20 Sekunden später um mich geschehen gewesen, als sich zum ersten Mal das verblüffende Spielkonzept von Darq offenbart. Geraten wir mit unserer Spielfigur nämlich an ein Hindernis, so kippt die gesamte Spielwelt um 90 Grad und wir gehen weiter an der Wand entlang, als wäre sie unser neuer Fußboden.
Auf dieser Mechanik basieren die ersten cleveren Rätsel des Spiels: Solange eine Zugbrücke runtergelassen ist, können wir sie überqueren. Doch wenn wir sie hochziehen, können wir daran empor gehen und an die Decke gelangen. Öffnen wir eine Falltür im Boden, stürzen wir nicht in den Abgrund, sondern kippen die Welt beim Schritt über die Kante um ihre Achse und schlendern gemütlich hinein. Auf diese Weise erschließen wir uns nach und nach die Spielwelt und darin auch Orte, die wache Menschen nie erreichen könnten.
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Darq überrascht in seinem Spielverlauf mit etlichen Ergänzungen und Variationen dieser Spielmechanik. In dem Kapitel im Zug können wir per Schalter die Welt auch nach vorne und hinten kippen und so aus einem völlig anderen Blickwinkel erkunden. Im Kapitel auf der Straßenkreuzung können wir gar die Welt in der Horizontalen drehen, um so gewissermaßen in ihre „Rückseite“ zu schauen, in der als vierte Wand normalerweise der Zuschauer sitzt. In der Druckerei müssen wir realisieren, dass durch das Drehen der Spielwelt nicht nur die Perspektive, sondern natürlich auch die Schwerkraft neu ausgerichtet wird und wir dadurch Objekte durch den Raum purzeln lassen können. In einer sensationell seltsamen Szene müssen wir den Weg durch ein Labyrinth finden, während sich die Kamera unablässig taumelnd um ihre eigene Achse dreht, weswegen wir die meiste Zeit über den Weg nur erahnen, aber nur hin und wieder tatsächlich sehen können.
Die Rätsel fallen nicht sonderlich schwer aus, aber stets aufs Neue verblüffend, variantenreich, für manch einen vielleicht einen Tick zu einfach, für meinen Geschmack jedoch höchst angenehm im Spannungsfeld zwischen nicht überfordernd, aber dennoch anregend genug für die grauen Zellen. Zahnräder in den Türmechanismus einsetzen oder Hebel für den Stromgenerator finden – letzten Endes fehlt das letzte Quäntchen Raffinesse, um Darq unter Genialitätsverdacht stellen zu können.
Mit knapp drei Stunden fällt das Hauptspiel zudem recht kurz aus, was in dieser Kompaktheit zum positiven Effekt beiträgt, dass jede Sekunde davon in hohem Maße unterhaltsam ausfällt, gleichzeitig aber das zwiespältige Gefühl hinterlässt, es mit einem Spiel zu tun zu haben, das dem Stadium eines Experiments seiner Entwickler noch nicht ganz entwachsen scheint. Auch dass die einzelnen Kapitel ohne erkennbaren Zusammenhang nebeneinander stehen und nicht durch eine klar als solche erkennbare Geschichte zusammengehalten werden, mag dem einen oder anderen missfallen – wenngleich ich es erfrischend fand, dass sich das Spiel offensichtlichen, küchenpsychologischen Deutungen verweigert, wie sie andere Spiele an seiner Stelle bemüht hätten, etwa Misshandlungen durch den Vater oder Mobbing durch Mitschüler als Auslöser für die Albträume herangezogen hätten. Die Symbolik von Darq ist offen für vielerlei Interpretationen, vermutlich bedeutet sie aber schlicht gar nichts.
Dafür enthält die Konsolenversion direkt die beiden umfangreichen DLCs, die nicht nur die Spielzeit mal eben auf knapp fünf Stunden nahezu verdoppeln, sondern auch den Schwierigkeitsgrad - und damit das Hauptspiel schon fast zum Tutorial degradieren. Im ersten DLC The Tower wechselt ihr (ähnlich wie erst kürzlich in The Medium) zwischen zwei Paralleldimensionen, um euch den Weg durch den Level zu erschließen, und im großen Finale The Crypt verliert euer Charakter gar den Kopf und kann diesen durch schmale Luken und Ritzen rollen. Was als mit Abstand größtes und schwerstes Kapitel nochmal alle vorherigen Register zieht, veranschaulicht allerdings auch deutlich, dass die kreative Bandbreite des Spielprinzips am Ende doch an ihre Grenzen stößt und das Spiel genau zum richtigen Zeitpunkt endet, bevor es sich abnutzt.
Darq ist beileibe kein Muss für jedermann, aber ein herzhaftes Darf für Freunde von einzigartigen Spielen mit Herz, Köpfchen und Stil.
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