Test - Stray : Katzen-Content trifft Cyberpunk
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„Katzen gehen immer“, dachte sich das französische Entwicklerteam von BlueTwelve Studio und entwarf ein Action-Adventure mit erfrischend neuer Perspektive, das zwei Themen zueinanderbringt, die entfernter kaum sein könnten: Cyberpunk und Cat Content. Dass Stray atmosphärisch dichter daherkommt als CD-Project Reds letzter Wurf, dürfte eine der größten Überraschungen des Jahres sein.
Es dauerte rund zwanzig Minuten, bis Stray mich im Griff hatte. Damit meine ich fest umklammert in Story und Atmosphäre. Nach einem netten, aber für das Spiel kaum ausschlaggebenden Intro, bei dem vermittelt wird, wie der Hauptdarsteller dieses Spiels durch einen missglückten Sprung den Anschluss an seine Katzen-Kumpanen verlor, versank ich im Charme eines ungewöhnlichen, aber durchaus fesselnden Stimmungs-Potpourris. Und er entsprang erstaunlicherweise nicht dem allzu offensichtlichen Versuch seitens der Entwickler, mit der unwiderstehlichen Niedlichkeit einer Katze zu bezirzen.
Hätte klappen können, wenn der rothaarige Schnurrer tatsächlich das Verhalten einer Katze an den Tag legte. Als Dosenöffner dreier Fellnasen war mir der Ansatz jedoch zu plump. Der namenlose Held erinnert Katzen-Kenner nur entfernt an ein echtes Tier, da er untypische Verhaltensweisen pflegt. Er miaut beispielsweise anderen Katzen zu, trinkt Wasser aus stillen Pfützen und schnurrt grundlos beim Schlafengehen, so als ob er verletzt wäre. Mit seinem stetig gesenkten Schwanz (der im ganzen Spiel nicht länger als 10 Sekunden erhoben sein sollte) kam er mir sinnlos mürrisch und unzufrieden vor. Wäre er ein Mensch, so würde er im übertragenden Sinne aus Benzinkanistern trinken und kopfstehend schlafen.
Der kleine Kater ist ein Klischee-Tier durch und durch. So wie eine Katze in Filmen und Fernsehserien stets ohne ersichtliche Motivation miauen muss, wenn sie im Bild ist, obliegt auch diese Fellnase etlichen Vorgaben, die höchstens den Erwartungen von Menschen entsprechen, die zweimal im Jahr eine Katze auf der Straße vorbeihuschen sehen. Der Kater muss also Gegenstände sinnlos umwerfen, an Tapeten kratzen und alle Nase lang Laute von sich geben (per Knopfdruck, was nach hundert Mal sogar mit einer Trophäe belohnt wird). Selbst mein junger Kater Pringles beobachtete seinen virtuellen Artgenossen auf dem Bildschirm nur mit verwirrtem Blick (oben das Beweisfoto dazu).
Eine Frage der Perspektive
Dass mich Stray trotz seines klischeebehafteten Hauptdarstellers atmosphärisch abholen konnte, liegt an der Perspektive, die er vermittelt. Als Unbeteiligter betrachtet er die neue Umgebung mit einer ähnlichen Faszination wie ich, und so kann ich mich problemlos in ihn hineinversetzen. Womöglich sogar noch leichter als in die Haut eines typischen Videospielhelden, der wild um sich ballert oder Wagnisse eingeht, für die ich nie den Mut aufbringen könnte. Er ist klein und unbedeutend und bewegt sich durch eine bizarr gestaltete Welt, die ich durch seine Augen mit Neugierde und Tatendrang erkunden darf.
Der misslungene Sprung des haarigen Schnurrers brachte ihn nämlich über Umwege in das unterste Stockwerk einer futuristischen Stadt voller dunkler schmutziger Gassen, schäbiger Blechbarracken und Bergen von Elektroschrott. Hier hausen Roboter im fahlen Licht kalter Neon-Werbetafeln. Sie haben eine menschenähnliche Form und ahmen deren Verhalten in gespenstisch abstrakter Weise nach. Manche hocken in Lumpen gehüllt in den Ecken der schmutzigen Straßen, andere musizieren mit analogen Instrumenten, verrichten Handwerksarbeiten und essen sogar. Da bekommt das Wort Kabelsalat eine ganz neue Bedeutung.
Ein seltsames Bild, nicht nur aufgrund der Abwesenheit von Menschen und der Imitation ihres Verhaltens. Warum Roboter aufgrund von Klassenunterschieden in Slums hausen müssen, ist ebenso rätselhaft wie ihr Hang zu nostalgischer Verklärung, der sich in stapelweise aufgetürmten Röhrenmonitoren, Kassettenrekordern und Büchern widerspiegelt. Empfinden sie wirklich etwas, wenn sie musizieren? Oder ist das nur Teil ihres programmgegebenen Verhaltensmusters? Man kommt echt ins Grübeln, wenn man den Gedanken weiterspinnt und auf echte Menschen überträgt.
Mein Schnurrhaar-Held grübelt derweil überhaupt nicht. Er wandert nur von einem Schauplatz zum nächsten, springt auf Joypadkommando mit großem Geschick auf dünne Balkongeländer, winzige Gerüststreben und andere Teile des schäbigen Stadtbildes. Für ein Action-Adventure ergibt sich dadurch ein ungewohnt vertikales Bewegungsmuster. Ich wandere viel öfter an Häusern hinauf und hinab als nur irgendwo in den Straßen, finde über etliche Umwege Öffnungen in Häusern oder betrete welche über Balkontüren, meist auf der Suche nach nützlichen Gegenständen: mal alte Aufzeichnungen, die mich zu verschollenen Personen führen, mal Dosen, die sich bei einem Händler eintauschen lassen.
Was nützlich ist und was nicht, verrät mir eine kleine schwebende Drohne namens B-12. Ich habe sie kurz nach dem Betreten der Stadt aufgelesen und aus einem langen Schlaf reaktiviert. Dank eines speziell für Katzen entworfenen Rucksacks (oh welch Zufall) trägt mein virtueller Kater sie und weitere Gegenstände mühelos an jeden beliebigen Ort. Was praktisch ist, denn B-12 übersetzt das digital gebrummte Kauderwelsch der Roboter in verständliche Zeilen, ebenso wie Schriftzeichen auf Plakaten. So erfahre ich von den Nöten und Bedürfnissen einzelner Stadtbewohner, wie auch von der allgemeinen Bedrohung durch die sogenannten Zurks.
Die große kleine Bedrohung
Zurks sind einäugige Tiere in der Größenordnung von Ratten, die beinahe alles fressen. Auch Metall. Somit stellen sie für Roboter eine lästige Plage dar. Für Katzen sowieso. Sie kommen immer in großen Schwärmen und bewegen sich so schnell, dass ich bei jeder neuen Begegnung zusammenzucke. In der Regel hat mein Katerich ihnen nichts entgegenzusetzen. Ich muss ihn rennend und Haken schlagend zur nächsten sicheren Zuflucht dirigieren, sonst springen sie ihn gierig an, beißen sich im Fell fest und fressen ihn bei lebendigem Leibe. Das mündet zwar nur in einem symbolischen Game Over, denn der folgende Neustart der Szene beginnt immer genau dort, wo die Zurks ihren Angriff starten, aber bei längeren Abschnitten mit vielen kleinen Zurk-Attacken können ständige Neuanläufe durchaus lästig werden.
Wenn ich sage, dass mein Kater den Zurks in der Regel nichts entgegenzusetzen hat, dann meine ich das genau so, denn zu fast jeder Regel gibt es eine Ausnahme. Sie besteht in diesem Fall aus einer geheimnisvollen Waffe, die ultraviolettes Licht ausstrahlt und Zurks in eine Art Zellmatsch verwandelt, der grob an Pizzateig erinnert. Eine Waffe, die leider schnell überhitzt, also sparsam eingesetzt werden muss, aber für das Durchqueren der Kanalisation unabdingbar ist. Nur an sie gewöhnen soillte man sich nicht, denn sie geht schon bald zu Bruch. Bedauerlich angesichts der mühevollen Beschaffung. Etliche kleine Bring-Quests und Erkundungsmissionen waren dafür vonnöten.
Nicht, dass diese Aufgaben schwierig gewesen wären. Ich bin sogar geneigt zu behaupten, die meisten Quests und Mini-Puzzles von Stray lösen sich von selbst, sobald man ihren Start- und Zielpunkt gefunden hat. Mitunter löst man sie sogar, ohne zu wissen, was sie nützen. Nicht gerade ein Pluspunkt für Stray, weil ein Zeichen nachlässiger Aufgabenstruktur.
Beispielsweise konnte ich nach dem Erreichen eines höheren Stadtlevels, in dem sich Roboter der Mittelklasse an anständigen Wohnverhältnissen, gutem Essen und guter Kleidung erfreuen, einen angesagten Pullover aus einem trendigen Modeladen klauen, indem ich den Verkäufer mithilfe von lauter Musik ablenkte. Eine Tat, die sich aus reiner Neugierde ergab. Welchen Sinn sie haben könnte, erfuhr ich erst ein ganzes Stück später.
Mehr Erlebnis als Herausforderung
Sei’s drum. Abseits der Erinnerungsfragmente in B-12s gelöschtem Speicher, die man durch das Erforschen der entlegensten Ecken komplettiert, stellen die kleinen Such- und Bring-Quests letztendlich nur Brotkrumenstationen auf dem größtenteils linearen Weg durch den Handlungsrahmen dar. Die Stockwerke der Siedlung stellen zwar kleine Hubs mit voller Bewegungsfreiheit dar, aber ihre Fläche dient nur der Zerstreuung. Darum lässt sich das Spiel auch (laut Trophy-Ziel) innerhalb von zwei Stunden knacken, sofern man alle Pflichtstationen kennt. Im ersten Anlauf (und beim Versuch, alle Erinnerungen für B-12 zu finden) rangiert die Spielzeit zwischen sieben und acht Stunden.
Gehaltvoll? Umfangreich? Komplex? Nein, das sind keine Attribute, mit denen Stray hausieren gehen könnte. Aber es ist erzählerisch und atmosphärisch so dicht gewoben, dass man dennoch jede einzelne Minute genießt. BlueTwelve Studios quetschen jeden Pixel einzeln aus, um möglichst viel (un)sichtbare und gefühlte Hintergrundkultur zu erschaffen. Obwohl eine Gesellschaft voller lebloser Roboterwesen im Vordergrund steht, fühlt sich die Szenerie doch wärmer und natürlicher an als viele andere Videospiel-Umgebungen. Ich habe auf meiner Reise zwar durchaus eine Menge belangloser NPCs kennengelernt, aber auch Persönlichkeiten, die mich neugierig gemacht haben.
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Obwohl Stray grafisch kaum etwas bietet, was einen Release auf der PlayStation 5 rechtfertigt, ist die visuelle Sprache so deutlich und reichhaltig, dass man schon durch den Anblick einzelner Screenshots ein Sammelsurium an Hintergrundgeschichten stricken kann, während der Soundtrack durch bizarre Synth-Klänge besticht, die eine ähnliche Wirkung entfalten. Ich würde nie im Leben alle Kompositionen des Spiels als besonders inpiriert oder genial bezechnen, aber manche Werke gehen durch ihre rein logische, Computer-typische Melodie-Logik so ins Mark, dass man ihnen lange genussvoll zuhört, obwohl man sie nicht mitpfeifen kann.
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