Test - Sea of Thieves : Langzeittest mit Licht und Schatten
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Lach- und Wutanfälle
Geradezu komisch – wenn auch sehr ärgerlich – gestaltet sich dieser Wile-E.-Coyote-Moment, wenn ihr nach erfolgreicher Beutetour an den Strand zurückkehrt und bemerkt, dass euer Schiff von jemand anderem gekapert wurde. Schöne Scheiße! Jetzt habt ihr einen Schatz, aber kein Schiff mehr.
Ebenfalls ein Garant für Lachanfälle, auch wenn man sich im Innersten zu Tode ärgert: Da schleppt man die Beute mühevoll an Bord und sticht in See, nur um drei Minuten später in einer Seeschlacht versenkt zu werden. Warum das so komisch ist? Na, weil man gemeinsam im Kleister sitzt und die typische Teamdynamik dazu führt, dass jeder es irgendjemand anderem in die Schuhe schieben will. Irgendjemand muss ja schuld sein.
Genau deswegen ist das gemeinsame Spielen in einer kleinen Crew so viel spaßiger als das Leben eines Solo-Piraten. Mal abgesehen von der typischen Seefahrer-Stimmung samt Aufgabenteilung auf dem Schiff begeistert die Häme, der Neid oder gar die Schadenfreude, die man mit der Crew auslebt. Völlig egal, ob in Konkurrenz mit anderen Piraten oder in der eigenen Mannschaft. Klar kann man einen Kumpel davor warnen, dass ihm beim Hinüberschwimmen zur nächsten Insel
ein Hai am Hintern hängt – Sprachchat sei Dank, denn die vorgefertigten Sätze aus dem Ringmenü geben so etwas nicht her. Aber warum sollte man das tun, wenn die übrigen drei Freibeuter doch lieber feixend Wetten abschließen, ob er es lebend ans Ufer schafft?
Je besser ihr euch untereinander kennt, desto besser und spaßiger wird die ganze Angelegenheit. Mit Fremden segeln geht natürlich auch. Das erwähnte Ringmenü mit diversen Emotionen und vorgefertigten Sätzen überbrückt die Sprachbarriere in den kritischen Momenten problemlos. Richtungsangaben, Befehle für die Steuerung des Schiffs und Hinweise bei Landgängen bringt ihr in Sekundenschnelle an den Mann, selbst wenn er buchstäblich Chinesisch sprechen sollte. Gegen das Zusammengehörigkeitsgefühl einer befreundeten Truppe, die auf Gedeih und Verderb das eigene Schiff beschützen will, kommt das trotzdem nicht an.
Und was man nicht alles gemeinsam tut, nur um des Spaßes willen. Zum Beispiel ein Saufgelage. Ein paar Krüge Grog lassen euch schlechter sehen und nicht mehr geradestehen. Oder zusammen musizieren und tanzen. Ein Knopfdruck genügt, sofern das Instrument im Inventar angelegt wurde.
Allerdings wurde genau hier auch viel Potential verschenkt. Es gibt nur eine Handvoll vorbestimmter Lieder, die ihr darbieten könnt. Wie man aus so einer Kleinigkeit ein gewaltiges Feature machen kann, beweist das MMORPG „Herr der Ringe Online“ schon seit einem Jahrzehnt, denn im virtuellen Mittelerde treffen sich inzwischen ganze Kapellen und spielen bekannte Melodien nach – sogar mit Texten, die auf Mittelerde-Themen umgemünzt werden. Da wird dann aus Basket Case von Green Day schnell mal ein Song über Aragorn und das Geschlecht der Dúnedain.
Hier könnte sich Rare eine gehörige Scheibe abschneiden, denn genau solche Community-Interaktionen fallen genau in das anarchistische Spielmuster, das Sea of Thieves anstrebt. Andernfalls muss eben doch eine zentrale Quest her, sonst dürfte die allermeisten Spieler nach spätestens zwei Wochen die große Langeweile einholen.
Löcher, die gestopft werden müssen
Nach ausgiebigen Fahrten im weiten Meer von Sea of Thieves bleibt eine Erkenntnis haften: Es braucht nicht zwingend eine zentrale Handlung, der alle wie am Schnürchen folgen. Das heißt aber nicht, dass eine solche Hauptquest das Spiel verschlechtern würde. Sie würde vielen Spielern, die wenig mit der Sandbox-Natur anfangen können, einen Grund geben, länger am Ball zu bleiben.
Was aber definitiv fehlt und unbedingt nachgeliefert werden sollte, ist mehr Unterscheidung in den Prioritäten der unterschiedlichen Gebiete. Im Moment gibt es viele unwichtige Inseln und wenige wichtige, die sich aber nur durch ihren Loot abheben. Nötig wären dagegen Gebiete, die aus unterschiedlichen Gründen ihren eigenen Wert bilden. Handelszentren, Handelsstraßen, einfache Dörfer und große Städte mit mal simplen und mal komplexen Nöten, deren Beseitigung man anstreben kann. Mehr Profil, mehr Lore, mehr Handlung, die man sich selbst zusammenstrickt.
Kurzgefasst: Sea of Thieves fehlt es an einem ungemein wichtigen Feature, nämlich einem simulierten Eigenleben, das anstelle einer zentralen Handlung einen roten Faden spinnt. Ohne ein solches bestehen die Fronten nur aus egoistisch spielenden Einzeldarstellern, egal ob nun in einer Crew oder solo agierend. Die Existenz eines gigantischen Kraken, in dessen Fänge man geraten kann, ist ein guter Anfang, aber kein Spielelement mit ernsthafter Konsequenz. Auch die Existenz einer geheimen Bucht, die laut Rare später einmal von Spielern eingenommen und nach eigenem Gutdünken ausgebaut werden kann, reicht bei weitem nicht aus, um Parteien und Fraktionen zu bilden.
Es wäre schade, wenn das schöne Setting ohne Sinn bliebe, denn dann wäre Sea of Thieves wirklich nichts anderes als eine Seefahrer-Variante von No Man's Sky. Der wunderschöne Wellengang, die hinreißenden HDR-Sonnenuntergänge – all das wäre umsonst. Auch wenn die Grafik auf den Inseln „nur“ einen Fortnite-ähnlichen Comicstil pflegt, wäre die Behauptung, es ginge um ein seelenloses Gebilde, glatt gelogen. Dieses Spiel hat Seele, und man erkennt sie beinahe in jeder Ecke. Allein das aufschäumende, wilde Meer, das in seinen etlichen Farben noch nie so detailliert dargestellt wurde, verdient einen sinnvollen Hintergrund, der ausgiebige Fahrten rechtfertigt.
Apropos HDR: Die wahnsinnig tollen Kontraste bekommt ihr leider nur auf der Xbox One und der Xbox One X zu sehen. Auf letzterer erstrahlt die Grafik sogar in nativem 4K. Auf dem PC wird HDR nicht unterstützt, aber immerhin könnt ihr bei höherer Bildrate segeln, was ebenfalls viel hermacht – gerade bei stürmischen Wellengängen.
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