Test - Pokémon Schwert & Schild : Grandios oder Reinfall?
- NSw
Pokémon Schwert und Schild waren schon im Vorfeld so umstritten wie kein anderes Spiel der Reihe. Schuld daran ist die zur E3 angekündigte Beschneidung des Pokédex’ und die Begründungen, die für diesen radikalen Schritt herangezogen wurden. Sind die Editionen mit den ersten offenen Arealen nun grandios oder behalten die ablehnenden Stimmen recht? Nach gut 60 Stunden Spielzeit erlauben wir uns ein Urteil.
Mit der E3 2019 wurde die Pokémon-Fangemeinde in zwei Lager gespalten: diejenigen, die sich aller Kritik an Game Freak zum Trotz auf die neuen Spiele freuen, und jene, die etwa mit dem Hashtag #BringBackNationalDex gar zum Boykott von Pokémon Schwert und Schild aufrufen. Ich selbst sah mich hin und hergerissen. Einerseits würde durch die Kürzung des Pokédex viel Spielzeit verloren gehen, die in das Fangen und Entwickeln fließt, andererseits gab es noch keine Edition, in der ich mich mit Pokémon aus älteren Spielen durch die Handlung kämpfte. Wie sieht es nun aus?
Die bisher schönsten Pokémon-Spiele
Für manchen Hardliner mag es unglaublich klingen, aber Pokémon Schwert und Schild sind die bisher schönsten Spiele der Reihe, ganz im Ernst. Jedoch gefolgt von einem großen “Aber”. Schwert und Schild sind die bisher schönsten Pokémon-Spiele gemessen daran, dass alle Teile bisher den Einschränkungen ihrer begrenzten Handheld-Hardware unterlagen - Let’s Go Evoli / Pikachu ausgenommen.
Seit der 5. Generation gibt sich Game Freak viel Mühe, den Geist des jeweiligen Landes einzufangen, auf dem die neue Region basiert. Galar ist eine Region, deren Britishness wie klebrige After-Eight-Füllung und Schwarztee aus jeder Ritze roter Backsteingemäuer trieft. Der Charme der bekanntesten Städte und Sehenswürdigkeiten wurde so akkurat umgesetzt, dass kein Zweifel offen bleibt, welches Land für die Spielwelt Modell stand. Auch wenn sie wie der Rest des Spiels grafisch überholt sind, kaschiert Game Freak Mängel gerade in Städten geschickt durch Stil und liebevolle Details, um ein stimmiges Bild zu malen.
Dieses können Schwert und Schild leider nicht aufrecht erhalten, sobald die Augen über die Naturzone schweifen. Mit ihr wurde der langgehegte Wunsch vieler Fans nach einem Open-World-Pokémon (zumindest in Teilen) erfüllt. Sie bildet die erste Anlaufstelle, um Pokémon zu fangen. Während Städte und Routen stilistisch viel hermachen, wirkt die Naturzone wie aus einer unfertigen Version des Spiels. Sie lässt Texturen, Details und Blickfänge missen, soweit das Auge reicht. Beispielhaft sind vor allem die kantigen, verwaschenen, an N64-Zeiten erinnernden Bäume, die symptomatisch für den Zustand der Zone aus dem Boden ragen.
Die Naturzone: Bitte mehr davon!
Auf den ersten Blick überwältigend groß, machen die ersten Streifzüge schnell klar, dass die Naturzone insgesamt überschaubar ausfällt und es abgesehen von Pokémon recht wenig zu entdecken gibt. Wer das offene Areal gleich als das betrachtet, was es ist, eine riesige Safarizone, der spart sich die unnötige Suche nach nicht existenten geheimen Orten. Stattdessen kann in der weiten Ebene ein Zelt aufgeschlagen werden, um PokéCamping zu starten, eine Spielart von PokéMonAmi und der PokéPause. Dort tollen die Pokémon umher, veranstalten Wettrennen und warten nur darauf, mit euch zu interagieren. Hier lassen sich sogar ein paar neue Animationen entdecken, die es nicht schon seit X und Y gibt.
Sich mit seinen Pokémon auseinanderzusetzen bringt nicht nur die bekannten Vorteile im Kampf, eure Schützlinge sammeln durch das Spiel mit Wedel und Ball auch Erfahrungspunkte. Kernstück ist aber das Kochen von Curry, das schöne Erinnerungen an Rockos Kocheinlagen aus dem Anime weckt. Mit ein paar Beeren und den passenden Zutaten wird ein kurzes Minispiel eingeleitet, das über die Qualität und somit die Heilkraft eurer Currys entscheidet. Je nach Zutaten wird ein anderes Gericht im Curry-Dex angelegt. Der ist leider ein belangloses Gimmick, in das ich mangels Mehrwert keinen zweiten Blick geworfen habe.
Alles in allem bietet PokéCamping meiner Meinung nach zu wenige Möglichkeiten, um mit den Pokémon zu interagieren, zumal ich mein Team nicht einmal im Handheld-Modus streicheln kann. Schade, wenn ich mich an die drolligen Animationen in Let’s Go erinnere. Die übrigen Möglichkeiten verlieren recht schnell ihren Reiz. Dabei hätte sich das Aufschlagen eines Zeltes hervorragend zur Wiederbelebung der Geheimbasen aus der dritten Generation geeignet.
Trotzdem bildet die Naturzone an anderer Stelle ein großartiges Fundament für die Zukunft, da sie schon jetzt zu den reizvollsten Aspekten des Spiels zählt, gerade für Spieler der ersten Stunde. Damit spiele ich vor allem auf den Schwierigkeitsgrad an, der in Pokémon zugunsten der Zugänglichkeit für ein jüngeres Publikum immer weiter stagnierte. Im Rahmen der Handlung gibt es kaum einen Gegner, dessen Wettstreiter Kenner nicht mit einer einzigen Attacke aus dem Weg räumen können. Mitschuld daran ist der nun überhaupt nicht mehr deaktivierbare EP-Teiler. Durch ihn war mein komplettes Team gegen Ende des Spiels 10 bis 20 Level überlevelt. So etwas darf nicht sein. Zum Glück hat die Naturzone gegen dieses Leiden ein paar Asse im Ärmel.
Dort ist Game Freak ein toller Kompromiss aus den Zufallsbegegnungen und den offen umherstreifenden Pokémon aus Let’s Go: Evoli / Pikachu gelungen. Ich staunte nicht schlecht, als ich gesehen habe, dass schon gleich zu Beginn Pokémon auftauchen, die gut 20 bis 60 Level über meinem Teamdurchschnitt lagen. Bekämpfen lohnt sich nur bei Typvorteil und geringer Level-Lücke. Ob sie gefangen werden können, ist an den eigenen Spielfortschritt, sprich, die Zahl der Orden gebunden. Eine seltsame Maßnahme, da sich früher zu starke Pokémon einfach den Kommandos widersetzten. Ich will mir gar nicht ausmalen, wie frustrierend es sein muss, ein schillerndes Pokémon nicht fangen zu dürfen.
Der zweite Schritt, den die Entwickler wieder in Richtung Herausforderung gegangen sind, sind die Dyna-Raids, mehr dazu später. Zwar sind die meisten von ihnen lächerlich einfach, doch ein paar waren derart schwer, dass ich K.O. ging. In einem Pokémon-Spiel! Ich kann kaum ausdrücken, wie glücklich es mich gemacht hat zu verlieren.
Endlich wieder schwer … ganz selten
In Sachen Kampfsystem ist sich Pokémon treu geblieben, was ich aufgrund der möglichen strategischen Tiefe für die richtige Entscheidung halte. Dennoch scheinen Schwert und Schild einige Items, Fähigkeiten und Attacken zu fehlen, die gerade den Reiz der Kämpfe ausgemacht haben. Apropos fehlen: Wie in der Naturzone fällt die Detailarmut der Umgebungen in Kämpfen am stärksten auf. An matschige und unscharfe Hintergründe kann man sich gewöhnen, an die lieblose Einfarbigkeit von Kämpfen innerhalb von Gebäuden aber nicht. Sogar die Let’s-Go-Spiele haben die Kampfbildschirme sehr genau an den jeweiligen Ort angepasst, was der Immersion sehr zuträglich war.
Das neue Kern-Feature, die Dynamaximierung, lässt ein Pokémon über drei Runden auf Hochhausgröße anschwellen und wandelt Attacken in Dyna-Attacken des entsprechenden Typs um. Deshalb sind die etablierten Kampfmechaniken der Z-Attacke und vor allem der Mega-Entwicklung der Schere zum Opfer gefallen. Dabei verhalten sich Dynamax-Pokémon spielerisch wie eine Mischung aus beidem, so neu sind sie daher nicht und deshalb auch keine genauere Erklärung erforderlich. Dennoch fügen sie sich besser in das Pokémon-Universum ein, als ich angenommen hätte. Als Godzilla-Fan konnte ich den riesigen Kreaturen sogar einen gewissen Kaiju-Charme abgewinnen.
Wer sich trotzdem daran stört, kann aufatmen, da die Dynamaximierung nur in Arenen und in Dyna-Raids möglich ist. Letztere könnten vor allem im Post-Game interessant werden. Wahlweise alleine oder mit Freunden wird gegen ein dynamaximiertes Pokémon gekämpft.
Jeder Raid fällt je nach Stufe unterschiedlich schwer aus. Das reicht von einfachen Kämpfen, die nach einer Attacke zu Ende sind, bis zu wirklich zähen Brocken, die man bestenfalls mit Ach und Krach besiegen kann, da das gegnerische Pokémon den Dynamax-Zustand nicht verliert und sich mit zusätzlichen Schilden schützen kann. Gefällt mir!
Olé, Olééééé!
Einen genauso guten Eindruck haben die Arenen hinterlassen, die spektakulär in riesigen Stadien inszeniert wurden. Ich hatte bisweilen wirklich das Gefühl, Teil eines Events zu sein, um das in Galar ein riesiger Hype besteht. Maßgeblich trägt dazu auch die Musik bei, in die das Johlen der Mengen eingearbeitet wurde. In Sachen Stimmung ist das top!
Arenakämpfe bedeuten aber nicht, dass die Prüfungen der Inselwanderschaft aus Alola abgesoffen sind. Viel mehr hat Game Freak sie verbessert und jedem Arenakampf als abwechslungsreiche Aufgaben vorangestellt. Mal müsst ihr eine Herde Wollys in eine Koppel manövrieren, mal ein Wasserrätsel lösen und mal eine Art Flipperspiel spielen. Mir gefallen die kreativen Ansätze, die Schwert und Schild um ein paar völlig andere Mechaniken bereichern. Die Arena-Challenge mündet schließlich in ein beeindruckendes Liga-Turnier, das nun ähnlich wie im Anime abläuft. Das ist weit weniger statisch als die Top 4 hinter verschlossenen Türen.
Und sonst so?
Auch wenn das Thema durch die endlosen Diskussionen im Netz inzwischen derart durch ist, müssen wir über den Elefanten im Raum sprechen: den Pokédex, für mich persönlich seit jeher das wichtigste Element jedes Pokémon-Spiels, da es auch lange nach Abschluss der Handlung noch beschäftigt. Der gefürchtete Radikalschlag durch das digitale Pokémon-Verzeichnis ist brutaler ausgefallen, als ich befürchtet hatte. Sehr viele Kreaturen darunter auch vergangene Schlüsselrollen und Fan-Lieblinge, wurden rigoros aus dem Spiel gestrichen, aus Gründen des Balancings und für bessere Animationen, wie es heißt.
Der Schnitt wirkt vor dem Hintergrund, dass sich im vorangegangenen Spiel noch über 800 Pokémon befanden, kaum nachvollziehbar. Dort schien Masse noch kein Problem darzustellen. Pokémon hatte noch nie ein gut gebalanctes Kampfsystem und die “neuen” Animationen sind so statisch und überholt wie seit 2013. Mir persönlich hat der Schnitt im Rahmen der Handlung wenig ausgemacht, da sich hauptsächlich neue Pokémon in meinem Team befanden. Weil die wenigen verbleibenden Pokémon aber auch fast ausnahmslos voll entwickelt in der Naturzone anzutreffen sind und nicht entwickelt werden müssen, geht ein großer Teil des Post-Games flöten.
Musikalisch hinterlassen Schwert und Schild einen durchwachsenen Eindruck. Von nervig-chaotischem MIDI-Geklimper über sanfte Harfen- und Dudelsacktöne hin zu imposanten Stücken voller Epik ist alles vertreten. Mein Highlight waren einige Tracks, die schöne Erinnerungen an den Sound von Rubin und Saphir weckten. Nicht wenige Titel fallen jedoch durch disharmonische Klänge unangenehm auf.
Im direkten Vergleich zu Sonne und Mond haben Schwert und Schild aus Fehlern gelernt und das zähe Vorankommen verflüssigt. Zwar wird der Protagonist erneut alle paar Meter von NPCs an die Hand und in Empfang genommen, die Dialoge verlaufen dafür sehr viel kürzer, einige Tutorial-Passagen lassen sich sogar überspringen.
Verbesserungen gibt es auch an der Onlinestruktur. Tausch- und Kampfpartner können nun per Knopfdruck gesucht werden, ohne den Weg über den umständlichen Festival-Plaza nehmen zu müssen. Wie gut aber gerade der Tauschvorgang mit Fremden ohne die Global Trade Station (GTS) funktioniert, kann ich nicht sagen, da es bisher nicht möglich war die Online-Funktionen zu nutzen.
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