Test - Mundaun : Grusel-Geheimtipp statt Horror-Humbug
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Das Wort Horror wird meiner Meinung nach inflationär verwendet. Nicht alles, was Gänsehaut erzeugt, ist gleich Horror. Was ist aus dem guten alten Wort Grusel geworden? Diese mulmige Unsicherheit, wenn man einen Keller betritt und den Lichtschalter nicht findet oder wenn man ohne Taschenlampe durch das Dickicht eines Waldes läuft. Das Indie-Spiel Mundaun des Schweizer Künstlers Michel Ziegler fängt dieses Gefühl wunderbar ein und präsentiert es in einem ungewöhnlichen Grafikstil.
Was ist denn das für ein Kauderwelsch? Ist das ein schwerer Dialekt oder schon eine eigene Sprache? Was sagt denn Google dazu? Aha, Rätoromanisch nennt sich das also, was Curdin, die Hauptfigur von Mundaun, von sich gibt. Ein Gemisch aus Schwyzerdütsch mit seinen typischen tiefen Rachenlauten und vielen konsonant-lastigen Zungenbrechern, die dem ersten Eindruck nach lateinischen Ursprungs sind. Wenn Curdin etwas buchstabiert, klingt es sogar fast wie Deutsch. Ein Hoch auf Untertitel.
Curdin erzählt von einem Brief, in dem steht, sein Opa sei gestorben. Er sei deswegen auf dem Weg nach Mundaun in der Schweiz. Einer dieser Orte, an dem hauptsächlich Rätoromanisch gesprochen wird. Ein Punkt im Nirgendwo, kaum die Buchstaben auf einer Landkarte wert, ginge es nicht um einen Berggipfel mit schöner Aussicht.
Das Häuschen des verstorbenen Opas manifestiert wortlos den Begriff Einsamkeit. Selbst Heidis Alm-Öhi würde hier wohl vor Langeweile sterben. Eine Blockhütte, ein Stall, zwei Schuppen, umringt von Heu, Wiese und ein paar Felsen inmitten eines hochgelegenen Bergpasses. Einer der Schuppen ist abgebrannt, und in ihr lag Curdins Großvater. Das kann nicht mit rechten Dingen zugegangen sein. Aber wer sollte ihn ermordet haben, hier, mitten im Nirgendwo? Und aus welchem Grund?
Fünfzig Meter weiter steht eine Kapelle, die kaum diesen Namen verdient. Wenn’s hoch kommt, passen hier zehn Leute rein. Weder Sitzbänke noch eine Sakristei oder ein Tabernakel komplettieren den schmalen Bau. Allenfalls ein paar rustikale Kniebretter verhindern, dass Gläubige ihre Hosen auf dem Boden aufscheuern. Doch der zugehörige Priester wirkt sichtlich nervös, muss sich Details aus der Nase ziehen lassen. Er kann Curdins Fragen nicht beantworten. Was sind das für seltsame Wesen, die nachts um die Hütte herumlaufen? Sie sehen aus wie lebendige Vogelscheuchen aus Heu. Und was hat es mit dem stummen Mädchen auf sich, das in der Gegend herumstreunt? Ein mysteriöses Abenteuer beginnt.
Bleistift-Grafik
Mundaun wäre wohl nicht mehr als der nächstbeste unbeachtete Indie-Steam-Eintrag, fiele die Präsentation des Abenteuers nicht von Anfang an auf. Die komplette 3D-Umgebung trägt nämlich Texturen aus handgezeichneten Bleistiftzeichnungen. Nein, keine feinlinigen Präzisionswerke, keine mit dem Lineal gezogenen, perspektivisch korrekten Entwürfe. Vielmehr skizzenhafte, grobe Handzeichnungen, deren einzige Farbnuance ein Sepiastich ist. Jedes Gemäuer, jedes Stück Holz und selbst Alltagsgegenstände wie Streichholzsachachteln oder Kaffeedosen tragen handgezeichnete Oberflächen, die der Schweizer Michel Ziegler in sechs Jahren mühevoller Arbeit zusammentrug. Einzig die Vegetation besteht aus typischen Videospiel-Assets.
Die Umgebung von Mundaun wirkt dadurch sehr analog, ja fast schon Videospiel-untypisch grob und ungenau. Für ein Grusel-Abenteuer mit Sicherheit kein Nachteil, denn dadurch obliegt vieles der eigenen Fantasie. Und so schräg es auch klingen mag: so manches Detail wirkt sogar glaubwürdiger als sein fein texturiertes Gegenstück aus anderen Spielen, das unbedingt fotorealistisch wirken möchte. Etwa wenn Curdsins Spiegelbild über einen Morph-Effekt langsam die Gestalt eines Dämons annimmt. Das Abstrakte wird nur noch ein wenig abstrakter, statt voll mit der etablierten Realität zu brechen. Absicht? Wer weiß, aber es wirkt.
Michel Ziegler gestaltete dieses Abenteuer im Alleingang, was bereits Respekt verdient. Höchst erstaunlich ist jedoch, mit welchem Geschick er ein Gefühl der Fremde erzeugt. Mundaun wirkt wie aus der Zeit gefallen, wie ein Fotoalbum mit vergilbten Aufnahmen von Menschen, an die sich niemand mehr erinnert. Obwohl die Hauptfigur Curdin schon als Kind zu Besuch beim Großvater war, scheint er ein Fremdkörper zu sein, der eine hermetisch abgeriegelte Miniaturwelt mit fremden Einflüssen infiziert. Ein Störfaktor, der die natürlichen Abläufe durcheinanderbringt.
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Natürliche Abläufe? Na gut, das kommt so nicht hin. Nicht, wenn Ziegenköpfe zu sprechen beginnen und abstrakte Gemälde die Grenzen der Realität verwischen. Der Teufel hat seine Finger im Spiel, wodurch einige bizarre Szenen und wirre Rätsel zustande kommen, die in starkem Kontrast zum eingangs etablierten Bergidyll stehen. In Mundaun geht es dennoch so überschaubar zu, dass man selten in einer Sackgasse steckt. Das Spiel löst sich beinahe von selbst, wenn man alle Tagebuch-Hinweise liest und alle Facetten der Umgebung in seine Beobachtungen einschließt.
Faszination der Stille
Im Haus des Großvaters beispielsweise wird eine Wand von mehreren Bildhinweisen verziert, die man leicht als Nebensächlichkeit abhakt. Dabei zeigt sie den genauen Ablauf des Abenteuers, mit allen wichtigen Stationen zur Lösungsfindung, wobei das Gros der Tätigkeiten aus Wanderungen besteht. Alles inspizieren, einige Gegenstände einsammeln (Schlüssel, Behälter, Wasser, Schnaps) und sie in richtigen Moment kombinieren, beziehungsweise verwenden. Hintergrundinformationen und Gespräche tragen nur selten etwas bei. Hier liest man mal einen Brief oder erlebt sogar einen Flashback, der die Beziehungen der Bewohner dieses Landstrichs offenbart. Die meisten Zusammenhänge kombiniert man dennoch durch Beobachtung und schlichtes Learning by Doing.
Ein paar optionale Ziele, etwa das Kochen und Konsumieren von Kaffee, steigern Curdins Befinden, können aber ohne größeren Verlust ignoriert werden. Das schließt Kampfeinlagen mit den Stroh-Ungeheuern ein. Bevorzugte Waffe dafür ist eine Heugabel. Tatsächlich ist es aber besser, den Monstern aus dem Weg zu gehen, denn ihr Schrecken verlangsamt Curdin, wodurch das sowieso schon träge wirkende Abenteuer gefühlt auf Zeitlupe schaltet. Ein wenig herumliegenden Stroh in Brand zu setzen, ist die schlauere Methode, mit der man solche Ungetüme auf Abstand hält.
Generell lebt Mundaun mehr von seinem Setting als von seinem Spielablauf, der zwar ein durchaus unterhaltsames Adventure manifestiert, aber nie durch Genialität aus der Reihe fällt. Wie zuvor beschrieben, würde Mundaun im Steam-Flow kaum auffallen, wenn die Grafik nicht so ungewöhnlich wäre. Michel Ziegler nutzt das allerdings zu seinem Vorteil. Er baut an den richtigen Stellen Atmosphäre auf, die Begehrlichkeiten weckt. Man möchte die Stille dieser Bergidylle bewahren, die wie das Motiv einer Schneekugel jenseits des weltlichen Alltags existiert und genau deswegen so schützenswert erscheint. Jede Abweichung verzerrt das Bild jener heilen Welt, die man im inneren Auge unbewusst weiterzeichnet. Der Gruselfaktor entsteht somit nicht aus der Furcht vor Heumonstern oder okkulten Begegnungen. Er ist das Resultat einer künstlich eingepflanzten Furcht vor Verlusten.
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