Test - Little Nightmares 2 : Reise durch die dunkelsten Albträume
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Ein Blick zurück in den langen, dunklen Korridor. Im fahlen Licht einer Funzel entdecke ich ein riesiges Auge, das im Wahn an die Wand gepinselt wurde. Ich ziehe weiter, gefolgt von tippelnden Schritten, kaum hörbar, aber doch ständig am Rande meiner Wahrnehmung. Ich befinde mich in einem Albtraum – aber wache ich besser auf? Oder soll ich noch tiefer in den Nachtschrecken abtauchen? Wer Little Nightmares 2 spielt, sollte unbedingt weiter träumen!
Little Nightmares 2 kann und darf man nicht frei von Emotionen betrachten. Nüchtern betrachtet handelt es sich dabei um ein Hüpfspiel, in dem ihr euch als verängstigter Winzling von links nach rechts durch eine riesenhafte 2,5D-Welt bewegt und durch zumeist lineare Level voller Rätsel und Fallen springt, klettert oder schleicht. Doch auf der Gefühlsebene ist Little Nightmares 2 gleichsam so viel mehr als das: Das Jump’n’Run zerrt euch wie schon sein Vorgänger in eine Welt kindlicher Urängste, die die Fantasie so stark stimuliert, dass die groteske Fiktion beinahe greifbar wird.
Gerade erst habt ihr den Schlund hinter euch gelassen. In einer Fernsehübertragung seht ihr ihn, den mysteriösen Thin Man in seinem Sendeturm. Ist er der Verursacher allen Übels? Trägt er die Schuld an den Deformierungen der Menschheit? Moment mal, das ging jetzt ein wenig zu schnell. Eins vorab: Wer Little Nightmares 2 ausgiebig genießen möchte, der sollte den Vorgänger wenigstens einigermaßen präsent haben.
Denn der zweite Teil der surrealen Groteske setzt direkt am Ende des ersten Teils an. Wisst ihr darüber nicht Bescheid, werden euch womöglich einige der subtilen Story-Impressionen des Spiels entgehen. Wer zudem bereits mit den Spielprinzipien des ersten Teils vertraut ist, dem dürfte es von Anfang an leichter fallen, sich in Little Nightmares 2 ganz und gar auf die einzigartige Atmosphäre zu konzentrieren.
Gemeinsam durch die Finsternis
Der Albtraum beginnt wie jeder andere Angsttraum auch: abrupt und unmittelbar. Unser Protagonist Mono wird nur in Lumpen gekleidet in einen tristen Wald geworfen, der mit seinen düsteren Blättern schaurig auf das Gemüt drückt. Unmittelbar hinter dem kleinen Jungen mit der Papiertüte auf dem Kopf verbirgt sich das erste und gleichsam größte Mysterium des Spiels: ein Fernsehgerät, dessen Signal uns in die feindselige Umgebung entlassen zu haben scheint. Doch ehe ihr mehr darin zu erkennen glaubt, geht das Signal verloren. Also erstmal weiter, tiefer in den schummrigen Wald.
Auf Six, die ganz in Gelb gekleideten Protagonistin aus dem ersten Teil, trefft ihr nach einer Weile in einer Jagdhütte. Das verängstigte Mädchen wird euch sodann über weite Teile des Spiels als NPC an der Seite stehen. Auf Monos Reise durch die vier Abschnitte des Spiels – den finsteren Wald, eine von garstigen Schülern bewohnte Schule, ein Irrenhaus und … den letzten Level verrate ich euch noch nicht … – hilft sie ihm, Rätsel zu lösen, Sprungeinlagen zu meistern und Hindernisse aus dem Weg zu räumen. Wie die beiden Kinder händchenhaltend den Widrigkeiten der grausamen Traumwelt trotzen, sorgt mehr als einmal für warmherzige Lichtblicke in einem ansonsten traurigen, angsterfüllenden Meer aus Dunkelheit.
Kein Horror, sondern eine Groteske
Eigentlich verrät sich Little Nightmares 2 schon im Titel. Das Spiel serviert authentische, kleine Albträume, die weniger nach Art klassischer Horrorkost einen Jumpscare nach dem anderen auftischen, sondern vor allem auf der psychologischen Ebene befremden. Der Spieler wird viel eher mit subtilem Psycho-Terror gequält, hinter dessen absonderlicher Maskerade selten Antworten zu finden sind, sondern lediglich die gemeine Fratze des Wahnsinns wartet.
Gerade deshalb solltet ihr Little Nightmares 2 auch wie eine Groteske – also eine verzerrte Wirklichkeit – erleben. Es lohnt sich, hinter wirren Kritzeleien paradoxer Albtraumwesen oder am Wurzelwerk der düsteren Bäume, deren Äste geradezu nach euch zu tasten scheinen, nach Erklärungen für den Zustand der Welt zu suchen. Denn das Spiel macht erzählerisch alles richtig, obwohl es euch nicht mehr gibt als eben diese winzigen Hinweise. Ihr dürft, nein, ihr solltet also selber versuchen, euch einen Reim aus den Geschehnissen zu machen. Sonst könnte es passieren, dass ihr das fulminante Finale nicht als solches wahrnehmt.
Licht ins Dunkel
Spielerisch ergänzen die Entwickler von Tarsier Studios ihren zweiten Teil mit interessanten Neuerungen. In Little Nightmares 2 dürft ihr nun eine Taschenlampe benutzen, die in besonders dunklen Umgebungen für wohltuende Oasen aus Licht sorgt. Außerdem müsst ihr die Funzel benutzen, um euch lichtscheue Schauerwesen vom Leib zu halten, die den kleinen Mono in der Dunkelheit verschlingen wollen. Die Stimmung, die eure spärliche Leuchte dabei kreiert, gehört mit zum Besten, was das Genre abseits von Limbo und Inside zu bieten hat. Klug eingesetzte Lichtwechsel formen eine Welt, in der jedes Schattenspiel schaudernd den nächsten Schrecken erwarten lässt.
Leider ist die Steuerung der Lampe über den rechten Analogstick ziemlich hakelig ausgefallen. Das sorgt immer wieder dafür, dass der Lichtkegel wegrutscht und die Monster entwischen, weshalb ihr mit großer Sicherheit einige der Level-Abschnitte mehrmals probieren müsst.
Ähnliche Schwierigkeiten bei der Handhabung offenbaren sich in den vereinzelt vorkommenden Kämpfen. Darin schwingen wir oftmals einen stumpfen Gegenstand wie einen Hammer oder ein Rohr, mit dem wir uns fiese Gegner vom Hals schaffen. Wenngleich die Kämpfe hervorragend den Spielablauf auflockern und es sich unvergleichlich befriedigend anfühlt, es den gemeinen Porzellan-Schülern mit einem Schlag auf ihre zerbrechlichen Schädel heimzuzahlen, bergen solcherlei Passagen regelmäßigen Frust: Denn wenn wir nur eine hundertstel Sekunde zu früh zuschlagen, lynchen uns die fiesen Viecher. So prügeln wir immer und immer wieder an der gleichen Stelle drauflos.
Des Rätsels Lösung
Die Kämpfe spielen innerhalb des Albtraums jedoch nur eine Randnotiz. Die meiste Zeit über löst ihr mit Mono unterschiedliche Rätsel, die in ihrem Schwierigkeitsgrad im Verlauf des Spiels deutlich zunehmen. Die Aufgaben variieren in Little Nightmares 2 etwas ausgiebiger, als es noch im ersten Teil der Fall war – allerdings erst später im Spiel. Oftmals heißt es gerade zu Beginn, einen goldenen Schlüssel zu finden, Türen zu öffnen oder eine Sprungpassage zu überwinden. Das sind zwar an sich keine großen Herausforderungen, doch die Perspektive der 2,5D-Welt sorgt nicht selten für kleinere Frustmomente.
So fällt es nicht immer leicht, die richtige Distanz zwischen den Plattformen einzuschätzen oder zum richtigen Zeitpunkt einen Gegenstand zu greifen. Indem die Welt eben nicht in purem 2D abläuft, sondern zusätzlich ein Stück weit in die Tiefe ragt, fehlt das Gefühl für die exakten Abstände zwischen den Ebenen des Spiels. Weil Mono aber leider alles andere als robust ist, bedeutet ein Sturz oftmals sein verfrühtes Ableben. Mit einem tiefen Seufzer beginnt der Albtraum dann von immerhin fair gewählten Speicherpunkten von Neuem.
Einzig das Sanatorium, das den dritten Abschnitt des Spiels bildet, hätte gerne weniger frustrierend ausfallen dürfen. Die Flucht vor den irren Insassen der Klinik artet leider oftmals in reinem Trial-and-Error aus. Erschwerend bekommt ihr nur unzureichend Feedback vom Spiel, was ihr falsch gemacht habt, sodass ein echter Lerneffekt ausbleibt. Ob ihr beim Stolpern über herumliegende Schuhe Zeit eingebüßt oder wertvolle Sekunden beim Sprung verschenkt habt, verrät es euch nicht. Das resultiert wiederum darin, dass ihr im Sanatorium einige Abschnitte mehrmals probieren müsst, ehe ihr sie dann eher zufällig meistert.
Doch davon solltet ihr euch nicht entmutigen und erst recht nicht vergraulen lassen! Im Finale des Albtraums werden die Rätsel erheblich vielschichtiger. Man merkt sofort, dass die Entwickler aus den Fehlern des ersten Teils gelernt haben. Besonders im letzten Level fährt Tarsier eine ganze Reihe grandioser Spielmechaniken auf, die es lohnen, durch die zuvor eher basalen Rätsel in die späten Abschnitte des Spiels vorzudringen. Die Entwickler spielen geradezu mit euren Sinnen, erwarten von euch, dass ihr tief in die Welt eintaucht und versucht, Teil des Traumes zu werden. So viel sei verraten: Das finale Kapitel ist eine meisterhafte Inszenierung grotesken Erlebens, das sich mit Genre-Königen wie Limbo ohne weiteres messen kann. Genau dafür lieben wir Videospiele, denn sie lassen den Spieler erleben, was sonst nur in Gedankenpalästen möglich wäre. Danke, Tarsier!
Die Krönung eines jeden Kapitels bilden die widerwärtigen, absurd verdrehten Bewohner des Albtraums. Für die Auseinandersetzungen mit - oder besser gesagt: der Flucht vor - den irren Schreckgestalten verdient Tarsier großes Lob. Sei es der Jäger aus dem ersten Akt des Spiels oder die grausame Lehrerin des zweiten Aktes: Tarsiers Endgegner scheinen geradewegs aus Tim Burtons skurriler Gedankenschmiede entlaufen zu sein. Was die schwedischen Entwickler mit den Boss-Absurditäten geschaffen haben, gehört mit zu den packendsten Konfrontationen, die ein modernes Jump’n’Run inszenieren kann.
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