Test - Industria : Cool: Half-Life-Hommage in Ost-Berlin
- PC
Vor meinem geistigen Auge kritzelt der First-Person-Shooter Industria mit großen Lettern das Wort Half-Life an die Wand. Teil eins oder zwei? Unerheblich, denn von beidem ist was dabei, sei es in der Auslage des roten Fadens oder der Vermittlung der beklemmenden Not, unter welcher die Hauptfigur Nora eine bizarre Paralleldimension erkundet. City 17 lässt grüßen. Eine mords Leistung für so ein kleines Entwicklerteam. Schade ist lediglich, dass der Spaß gerade mal vier Stunden anhält.
Am Tag des Mauerfalls im Jahr 1989 stapft eine junge DDR-Wissenschaftlerin durch die kalten Straßen Ost-Berlins. Während wildfremde Menschen sich im Lichte der ersten Auswüchse deutsch-deutscher Wiedervereinigung in den Armen liegen und zugleich den vom Osten errichteten, sogenannten antikapitalistischen Schutzwall johlend in Stücke schneiden, begibt sie sich zu einem nicht unbedingt geheimen, aber angesichts der derzeitigen Ereignisse vereinsamten Wissenschaftslabor.
Die Angst, Stasi-Agenten könnten Schindluder mit der Maschine treiben, die sie zusammen mit ihrem Freund und Kollegen Walter mühsam entwickelt hatte, bringt sie an jenen Ort, an dem sie feststellt, dass besagter Freund ihre Erfindung erfolgreich an sich selbst ausprobierte. Walter teleportierte sich mithilfe einer großen Maschine aus Ost-Berlin heraus. Doch wohin führte seine Reise? Nora hat keinen Schimmer.
Dennoch beschließt sie mutig, ihm ins Unbekannte zu folgen, und landet in einer befremdlichen Paralleldimension. Genau genommen in einer Art Zerrbild eines alternativen Berlins, das von entfernt menschenähnlichen, aggressiven Robotern belagert wird.
Was es mit diesen Robotern auf sich hat, wäre zu viel verraten. In den gerade mal vier Stunden Spielzeit von Industria markiert jedes gelüftete Geheimnis einen Höhepunkt, der im Rahmen eines Tests nicht vorweggenommen werden sollte. Ich werde also einen Teufel tun. Doch ich denke, die starken (wenn auch teilweise spiegelverkehrten) Parallelen zu den epischen Intros von Half-Life 1 und 2 sind unverkennbar. Sie geben die Richtung vor, in die sich das Spiel bewegt.
Leere Straßen, fiese Roboter
Nur eines unterscheidet sich gewaltig: Die Welt von Industria fühlt sich im Vergleich zu Half-Life einsam und verwaist an. Alle Einwohner der Paralleldimension verließen in Angst um ihr Leben die Stadt. Das war vor vielen Jahren, als der Krieg gegen die Künstliche Intelligenz begann. Abseits eines fernen Begleiters, der ähnlich wie einst in Bioshock die Rolle des Brotkrumen streuenden Erzählers einnimmt, trifft Nora keine Menschenseele. Roboter in diversen Ausführungen – mal rundlich und schnell, aber nur einen Meter hoch, mal groß und klobig mit Stahlstreben um den Oberkörper, suchen dagegen ständig nach ihr.
Nicht aus Höflichkeit. Sie trachten ihr nach dem Leben. Aber Nora, ihr Hackebeil im Anschlag, denkt gar nicht ans Verstecken. Sie will Walter finden, wandert durch zerfallene Gebäude, löst in der ersten Spielstunde kleine Puzzles, setzt Dampfmaschinen in Gang und schnappt sich jede Schusswaffe, die ihr unter die Griffel kommt. Dabei erfährt sie mehr, als ihr lieb ist.
So viel zur Handlung, deren Auswüchse sicherlich nicht ganz freiwillig Form annahmen. Die Leere und Einsamkeit von Industria ist höchstwahrscheinlich den Ressourcen des Entwicklerteams geschuldet. Zwei kreative Köpfe (und ein wenig verstärkende Manpower für die Finalisierung) können keinen Shooter im Blockbuster-Umfang zusammenstellen. Jedenfalls nicht, wenn das Endergebnis hochwertig aussehen und spielerisch mitreißen soll.
Beides gelingt zwar nicht vollends, denn Industria kann seine Ressourcenknappheit nicht verbergen, aber im Reich der Indie-Games gab es schon wesentlich Hässlicheres. Zugegeben, einige Grafik-Assets der verlotterten Stadt wirken ein wenig generisch. Nebel füllt Straßen, die nicht bis an ihre Grenzen ausmodelliert wurden, und wenn man genau hinschaut, entdeckt man sogar kleine Lücken in Mauern, die Hintergrundgrafiken ungewollt dem bloßen Auge preisgeben. Wer die optionalen Raytracing-Grafikoptionen aktiviert, zwingt derweil den heimischen Rechenknecht selbst mit einer RTX 3080 weit unter die 60 FPS-Marke. Gelegenheit zur Optimierung gäbe es also reichlich.
Geschenkt! Selbst wenn ich nicht wüsste, dass dieses Spiel zwei Hirnen und vier Händen entsprungen ist, hätte mich die Atmosphäre des Spiels abgeholt, weil sie über weite Strecken dichter und professioneller inszeniert wirkt als in vielen anderen Indie-Games. Einen nicht zu verachtenden Anteil daran trägt die professionell eingesprochene englische Stimme der Hauptdarstellerin.
Einige der kleinen Schwächen könnten durch Updates ausgemerzt werden, sei es die etwas spärliche Diversität bei den Soundeffekten oder besagte Lücken in einigen Gemäuern. Nebel in unvollendeten Gassen? Ja, das ist als Vertuschungswerkzeug nicht mehr zeitgemäß, aber die dichte Grau-in-Grau-Suppe mancher Sackgassen erinnert mich an das gute alte N64. Auf positive Weise! In Zeiten ausladend großer Spielwelten, im Open-World-Wahnsinn gefeierter Blockbuster, in denen man sich manchmal sinnlos einen Wolf sucht, stellt eine kleine, in sich geschlossene, aber stimmungsvoll verwirklichte Szenerie eine willkommene Abwechslung dar. Verwinkelte Gassen voller abgetragenem Putz und chaotisch herumliegenden Wohnutensilien erzählen Geschichten von Menschen, die schon lange nicht mehr hier leben. Sie wecken die Neugierde und füttern eine Story, die das Spiel schubweise preisgeben möchte.
Aus wenig Material viel herausgeholt
Das ist alles nur Kulisse. Wichtig ist letztendlich, dass das Spiel funktioniert. In einem Story-Ego-Shooter mit Bots geht es ums Ballern gegen eine Künstliche Intelligenz - und das funktioniert ganz vorzüglich, gerade weil die Designer bei Bleakmill den einfältigen Robo-Kriegern keinen hohen IQ unterjubeln müssen. Jeder Roboter-Typ hat ein spezielles Angriffs- und Wahrnehmungsschema, lässt sich aus der Reserve locken, austricksen und mit der richtigen Strategie über den Haufen ballern. Das gewährt Planungssicherheit und genügend Freiraum für orthodoxe strategische Manöver, falls mal die Munition zuneige geht. Anderseits treiben enge Schneisen und umständlich erreichbare Schalter Nora immer wieder in einen Hinterhalt oder ein schlecht überschaubares Schlachtfeld, in dem die fiesen Blechkameraden schamlos über sie herfallen können. Seltene Schreckmomente inklusive. Hier wurde aus wenig Material viel herausgeholt. Cool!
Mit lediglich fünf Waffentypen, die abseits ihres etwas eigenwilligen Designs dem typischen Realwelt-Shooter-Repertoire entsprechen, betritt Industria ganz bestimmt keine fremden Gefilde, aber das Ballern wurde solide verwirklicht, bereitet insbesondere in engen Szenarien Spaß und kitzelt aufgrund der beinahe stetigen Munitionsknappheit den Erkundungswillen hervor. Sollte das allein keine ansprechende Herausforderung sein, so hilft der höhere der beiden Schwierigkeitsgrade nach, in dem keine automatisch aktivierten Checkpoints mehr existieren. Ähnlich wie beim klassischen Resident Evil dienen in dem Fall nur einige wenige Schreibmaschinen als manuelle Speicherpunkte.
So richtig schweißtreibend wird Industria aber nie, ganz egal auf welchem der beiden Skill-Level ihr durch das Szenario ballert. Spätestens nach dem dritten oder vierten Fehlversuch geht man mit verbundenen Augen durch jede noch so knifflige Szene. Das Niveau steigert sich stetig, aber gerade in dem Moment, wenn man glaubt, es ginge in die Vollen, ist der Spaß auch schon wieder vorbei. Platz für eine Fortsetzung bliebe. Ob sie tatsächlich verwirklicht werden soll, steht auf einem anderen Blatt. Industria wirkt auf mich eher wie eine überlange Demo, die die Handschrift der Entwickler unter die Menschen bringen soll, um das Interesse potenzieller Investoren und Publisher zu wecken. Ein vermessenes Ziel? Mitnichten, auch wenn 19,99 Euro für vier Stunden Ballern kein Pappenstiel sind.
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