Test - Harold Halibut : Test: So viel Liebe in nur einem einzigen Spiel
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10 Jahre! Das muss man sich erstmal auf der Zunge zergehen lassen: 10 Jahre befand sich Harold Halibut beim Kölner Indie-Entwickler Slow Bros. in Entwicklung. Sobald man einen Blick darauf wirft, versteht man auch warum: Denn sämtliche Figuren und Kulissen wurden in liebevoller, aufwändiger Handarbeit nach dem Vorbild klassischer Stop-Motion-Filme zunächst als Puppen und Miniaturmodelle gebastelt, bevor sie in den Computer übertragen wurden. Ein echtes Herzensprojekt wahrer Liebhaber also.
Nachdem die Erde durch eine Umweltkatastrophe unbewohnbar geworden war, suchte die Menschheit an Bord des Generationen-Raumschiffes „Fedora“ 250 Jahre lang nach einer neuen Heimat in den Tiefen des Alls. Bis es eines Tages im Ozean eines fernen Wasserplaneten abstürzte. Dort liegt es nun schon seit Jahrzehnten im Dunkel der Tiefsee, während die Menschen emsig nach einer Möglichkeit forschen wieder zu entkommen.
Einer von ihnen ist Harold Halibut, dessen Rolle ihr im gleichnamigen Spiel übernehmt. Harold ist das, was man einen leicht verhuschten Träumer nennen könnte. Als Assistent der Wissenschaftlerin des Schiffes lebt er meist in den Tag und dessen Routine hinein und gibt sich beim Blick durchs Bullauge auf die bunte Fischwelt des Ozeans regelmäßig seinen melancholischen Gedanken hin. Bis er eines Tages Bekanntschaft mit einem amphibischen Alien schließt, woraus sich eine ungewöhnliche Freundschaft entwickelt, die sein Leben und das der gesamten Besatzung der Fedora auf den Kopf stellt …
Zauberhafter Grafikstil
Harold Halibut ist ein Spiel, das voll und ganz in seinem außergewöhnlichen Grafikstil aufgeht. 10 Jahre lang befand sich der Titel beim Kölner Indie-Studio Slow Bros. in Entwicklung. Jeder Charakter, jeder noch so kleine Gegenstand und jede Kulisse wurde nicht wie üblich am Computer gezeichnet, sondern zunächst in aufwändiger Handarbeit als Puppe bzw. Miniaturmodell aus Holz, Stoff und Blech erstellt und dann eingescannt – ähnlich wie im ebenfalls aus Deutschland stammenden Trüberbrook (Test).
Herausgekommen ist ein Look, der deutlich die Liebe seiner Entwickler zu klassischen Stop-Motion-Filmen wie Coraline, Der fantastische Mr. Fox oder dem Sandmännchen erkennen lässt. Die Gesichter der Charaktere etwa sehen nicht ebenmäßig und organisch aus, sondern weisen eine raue, stets leicht unperfekte Oberfläche auf, die wirkt, als habe sie ein Künstler mit seinen Fingern aus einem tonähnlichen Material geformt oder wie Michel aus Lönneberga eigenhändig mit dem Messer aus Holz geschnitzt.
Da meint man in Harolds Gesicht mitunter fast den Daumenabdruck zu erkennen, durch den der Kopf in seine endgültige Form gedrückt wurde. Und seine Kleidung, bestehend aus einem fusseligen, ausgetragenen Hemd und einer stets ein klein wenig zu weiten Bundhose mit schlaffen Hosenträgern, erweckt den Eindruck, als stamme sie aus der Altkleidersammlung eines Puppenhauses oder sei ursprünglich für eine Marionette der Augsburger Puppenkiste maßgeschneidert.
Doch nicht nur das Aussehen, auch Gestik, Mimik und Körperhaltung der Figuren sind der Tradition des Puppentheaters nachempfunden: allein schon Harolds längliche, unproportionierte Kopfform, seine schlaksig hängenden Arme und die Art und Weise, mit der sich die Lippen beim Sprechen nicht realistisch auf und zu bewegen, sondern stroboskopartig flackern wie eben im Stop-Motion-Trick. Sämtliche Requisiten, vom Stuhl bis zur Teekanne, wurden zunächst aus Holz in filigraner Handarbeit gebastelt und bemalt, bevor sie dreidimensional eingescannt wurden und dadurch im Spiel eine unvergleichlich zauberhafte Anmutung entfalten. Wenn man zu erkennen meint, wie die Farbe mal dicker und mal gröber aufgetragen wurde, offenbart das nicht nur die ausufernde Feinarbeit, die in das gesamte Spiel geflossen ist, es veranschaulicht gleichzeitig auch den abgenutzten Zustand dieses Raumschiffs am Grund des Meeres, das seinen Bewohnern schon seit Jahrzehnten als Heimstätte dient und langsam vor sich hin rostet.
Hinzu kommt eine ausgeklügelte Beleuchtungsdramaturgie in der gekonnt eingesetzten Unity Engine, die genau diese Gemachtheit in erstaunlicher Plastizität und Natürlichkeit stets bewundernswert in Szene setzt: Da reflektiert Harolds Kopf mal in einer Szene das grelle Licht der Deckenbeleuchtung wie der Scheinwerfer einer Theaterbühne und wirkt dadurch so hölzern wie er nunmal naturgemäß ist, in einer anderen Szene wähnt man sich durch das Rot der Alarmleuchten wie auf einem U-Boot bei höchster Gefahr, und dann ist da immer wieder der Kontrast zur dunklen Tiefsee vor den Fenstern, dessen alles verschlingendes Schwarz nur vom magischen Farbenspiel seiner exotischen Tierwelt durchbrochen wird.
Harold Halibut ist in jedem Pixel die Liebe und Hingabe anzusehen, mit denen es in einer Werkstatt entstand und dann in Bits und Bytes gegossen wurde. Nicht nur in seiner Hommage an die Stop-Motion-Technik, sondern generell in seinem ungewöhnlichen Retro-Design: Denn obschon das Raumschiff Fedora mit allermodernster Technik wie holographischen Anzeigetafeln und futuristischen Teleportern ausgestattet ist, scheinen viele Alltagsgegenstände eher aus den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts zu stammen. Kommunikation findet etwa über altmodische Telefone mit Wählscheibe statt, oder es werden gar noch handschriftliche Briefe verschickt und vom Postboten ausgetragen statt E-Mails und WhatsApps. Die Armaturen der Fedora bestehen nicht aus funkelnden Touchscreens, sondern aus klobigen Kippschaltern und langen Hebeln, und in den Glühbirnen ist deutlich der Wolframdraht zu erkennen, der bei uns schon lange zum buchstäblich alten Eisen gehört.
Und so schrullig wie eigensinnig sich das Spiel in seinem visuellen Stil gebärdet, so extravagant gibt es sich auch in seiner Musikauswahl zwischen Beethoven, italienischem Schlager und Hildegard Knef. Auch der Rest des Soundtracks deckt eine kühne musikalische Bandbreite ab zwischen sphärischen Post-Rock-Klangteppichen und munterem Jazz und wurde gar vom Chefentwickler persönlich komponiert, wie generell jede:r Entwickler:in im kleinen Team auffallend häufig mehrere Rollen während der Produktion ausfüllte.
Bereits 2014, also vor zehn (!) Jahren, gab es dafür die ersten Award-Nominierungen, u.a. auf dem Zürich Game Festival oder dem Berliner A Maze Indie-Symposium, 2017 den Deutschen Entwicklerpreis für das meisterwartete Spiel, später dann Ehrungen auf den Filmfestivals von Tribeca, San Francisco und Montreal, um nur ein paar der zahlreichen Vorschusslorbeeren zu nennen.
Aber Stil ist nicht das Ende des Besens
Wie gerne würde ich an dieser Stelle mit der Schwärmerei fortfahren. Doch gehören zu einem Videospiel neben Grafik und Stil eben auch Kategorien wie Gameplay und Story. Und in diesen Disziplinen gibt Harold Halibut leider ganz und gar keine gute Figur ab.
Die Aufgaben in diesem weitgehend konventionellen Point-n-Click-Adventure bestehen ausnahmslos aus enervierenden Hol-und-bring-Diensten, die seine Spieler unablässig auf Botengänge vom einen Ende der Spielwelt zum anderen und wieder zurück schicken. Da soll man mit Person A reden, die einen erstmal an Person B verweist, die wiederum einen Gegenstand von Person C benötigt. Fetch-Quests nennen das böse Zungen, und mehr als dieses maximal einfallslose Muster hat Harold Halibut spielerisch nicht vorzuweisen.
Davon abweichende Rätsel gibt es nicht; das gesamte Spiel besteht einzig und allein aus reden und gehen. Den unrühmlichen Höhepunkt in dieser Hinsicht bildet ein Kapitel, in dem man vorübergehend zum Briefträger ernannt wird, und symptomatisch für den Gesamtzustand des Spiels nichts Anderes macht, als Post an ihre Bestimmungsorte auszutragen. Was vermutlich sentimentale Bande zu den Figuren und ihren Schicksalen knüpfen soll, bleibt jedoch leider so oberflächlich und banal, dass der emotionale Funke nur leidlich überspringen mag.
Durch die ständigen Laufwege erschleicht sich Harold Halibut eine fürs Genre immerhin stattliche Spieldauer von 12 Stunden und mehr (für 15 Stunden gibt es gar ein Achievement), streckt sie dadurch aber lediglich unnötig bis an die Zerreißgrenze des Erträglichen. Die Hälfte hätte locker gereicht, ohne dass auch nur irgendetwas vermisst worden wäre.
Womöglich hatten die Entwickler Sorge, dass in kompakterer Form stärker aufgefallen wäre, dass auch der Geschichte des Spiels bei genauerer Betrachtung schlicht die Substanz fehlt. Die meisten Dialoge erschöpfen sich in belanglosem Smalltalk, der weder den Figuren noch dem Plot nennenswerte Facetten hinzufügt. Die komplette Handlung von Harold Halibut passt im Grunde auf einen Bierdeckel und birgt geradewegs genug Material für einen drolligen Kurzfilm, als der es vermutlich besser aufgehoben gewesen wäre. Für ein zwölfstündiges Videospiel fällt sie jedoch zu belanglos und überraschungsarm aus und plätschert die meiste Zeit über vor sich hin wie das abgestandene Wasser im Alien-Teich.
Vor allem aber scheint das Spiel auf sonderbare Weise nicht so recht zu wissen, was es eigentlich sein will und an welche Zielgruppe es sich wenden möchte. Denn im Herzen ist Harold Halibut eine zauberhafte Parabel über eine ungewöhnliche Freundschaft, die alle kulturellen Grenzen überwindet, den Wert von gemeinschaftlichem Zusammenhalt und die Suche nach dem eigenen Platz im Leben, so unwahrscheinlich dieser auch sein mag. Also im Grunde typische Themen für ein Kinderbuch, einen Pixar-Animationsfilm für die ganze Familie oder eine putzige Folge der Augsburger Puppenkiste.
Doch dazu im Widerspruch steht das ständige, biedere Technik-Gebabbel über ballistische Raketen-Flugbahnen und außerirdische Energiepartikel, bei dem man schon damals in Star Trek der Hilflosigkeit der Autoren geradewegs zusehen konnte, die aktuelle Situation krampfhaft erklären und auflösen zu müssen. Für Kinder dürfte Harold Halibut dadurch zu gestelzt und neunmalklug auftreten, für Erwachsene wiederum zu naiv und belanglos. Zumal die (gelungene) Vertonung nur auf Englisch mit deutschen Untertiteln vorliegt und Kinder dadurch als Zielgruppe ohnehin weitgehend ausschließt.
Und letzten Endes muss man selbst dem schillernden Aushängeschild des Spiels, dem eingangs noch so euphorisch gelobten Grafikstil, bei näherer Betrachtung vorwerfen, dass viel von seinem handgemachten Charme bei der Übertragung in die 3D-Engine verloren ging. Jedenfalls macht das Geschehen, wie schon beim sehr ähnlich gearteten Trüberbrook, nur selten den Eindruck, als sei der unfassbare Aufwand wirklich nötig gewesen und das Gezeigte nicht auch durch ein bisschen Geschick mit einem herkömmlichen Grafikeditor möglich.
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Wahrscheinlich hätte es schon geholfen, würde das Spielgeschehen weniger in der schmucklosen Seitenperspektive gezeigt und stattdessen öfters mal nah ans Geschehen heranzoomen, um all die verschwenderischen Details gebührend ins Bild zu rücken. Womöglich wäre auch dem Charme zuträglich gewesen, fielen die Animationen weniger geschmeidig aus und würden stattdessen durch gelegentlich leichtes Ruckeln oder anderweitig kleine, charmante Anspielungen ihren Stop-Motion-Charakter stärker hervorheben. So bleibt auch in dieser Disziplin das Fazit, dass Harold Halibut als Kurzfilm eine bessere Figur abgegeben hätte denn als Videospiel.
Es tut mir in der Seele weh, über ein Spiel, das offensichtlich mit so viel Liebe und Herzblut entwickelt wurde, derartig harsche Worte auszusprechen, und wer sich für derartige Animationskunst begeistert, der sollte dem Spiel trotz aller Kritik unbedingt seine Unterstützung zuteil werden lassen. Aber selten hat die Phrase vom „Style over Substance“ so gepasst wie in diesem Fall. Wer ihm dennoch seine verdiente Chance gegen will: Harold Halibut ist direkt zum Launch im Xbox Game Pass enthalten, aber natürlich auch für PC und PS5 verfügbar. Eine Switch-Version soll zu einem späteren Zeitpunkt folgen, scheint mir aber angesichts der hardwarehungrigen Grafikpracht wenig empfehlenswert.
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