Test - Encodya : Cyberpunk mit Herz und Roboter
- PC
Das stetige Getöse der Großstadt weckt ein kleines Mädchen namens Tina aus ihrem unruhigen Schlaf. Sie und ihr herziger Bodyguard-Roboter mit dem Namen SAM-53 leben auf dem Dach eines Wolkenkratzers der futuristischen Stadt Neo-Berlin. Nicht gerade gemütlich da oben, wenn nur eine Plane vor Wind und Regen schützt. Dieser improvisierte Unterschlupf ist der Startpunkt eines spannenden Point-and-Click-Adventures namens Encodya, das sich den klassischen Tugenden des Genres verschreibt.
Neo-Berlin ist kein Drecksloch à la Blade Runner, aber eine dichte, unentwegt beschäftigte Stadt, der jegliche Schönheit verlorenging. Irgendwo zwischen schmucklosen, verrohenden Häuserfassaden steht sogar noch das Brandenburger Tor, unbeachtet seiner Historie. Wenn selbst so ein großes Monument in der Bedeutungslosigkeit verschwindet, ist es kein Wunder, dass auch ein kleines einsames Mädchen im Trubel untergeht.
Der Kalender gibt das Jahr 2062 an. Irgendwie bizarr. Das sind gerade mal 41 Jahre von unserem heutigen Standpunkt aus. Angesichts der Dichte der Straßen, den fliegenden Autos und der künstlichen Intelligenz, die SAM-53 zur Schau stellt, könnte man meinen, das ganze finde eher noch hundert Jahre später statt. Regisseur Nicola Piovesan wählte das Datum in nicht allzu ferner Zukunft jedoch mit voller Absicht, denn damit lassen sich leicht Bezüge zur heutigen Welt schaffen. Nicht nur Parallelen und Gleichnisse, wie etwa der klare Verweis auf Wohnungsnot und urbane Gentrifizierung, sondern auch doppelt verdrehte Nostalgie, wie etwa die Faszination an alten Computern, die bei einem Trödelhändler zur Schau gestellt wird. Ist es schon meta, wenn dort eine 3,5-Zoll-Diskette mit der Aufschrift DOTT (für „Day of the Tentacle“) herumliegt?
Encodya hat weder spielerisch noch grafisch viel mit dem LucasArts’schen Tentakeltag gemeinsam, aber der Verweis auf die gute alte Zeit der anspruchsvollen Point-and-Click-Adventures kommt nicht von ungefähr. Encodya möchte nämlich genauso komplex und hirnzermarternd sein wie sein referenziertes Qualitätsvorbild. Mission erfolgreich!
Ein Zeichentrickfilm zum Selberspielen
Die Handlung startet mit einer einfachen Prämisse: Tina braucht etwas zu essen, SAM ein wenig Öl und beide zusammen eine Busfahrkarte, damit sie die Stadt erkunden können. Das alles sollte doch zu finden sein, schließlich haben die beiden Protagonisten unterschiedliche Stärken. So vermag Tina enge und niedrige Ortschaften zu erforschen oder in ein Mauseloch zu greifen. Zudem kann sie gut mit Menschen kommunizieren. SAM-53 ist dagegen so groß, dass er entlegene Gegenstände erreicht. Er hat ein Händchen für Technik und kommuniziert mit Robotern oder technikaffinen Personen. Nur ein Mausklick auf ein Symbol genügt, schon kontrolliert man einen der beiden direkt und kann die jeweiligen Fähigkeiten ausspielen.
Leichter gesagt als getan, denn Encodya ist für heutige Verhältnisse ein schwerer Brocken unter den Adventuren. Nüchtern betrachtet gar nicht mal so komplex, aber schwierig aufgrund seiner großen Anzahl an Bezugsquellen und Kombinationsoptionen. Laut den Machern besucht man 100 Schauplätze, was aber nur dann stimmt, wenn man die Unterteilungen gewisser Ortschaften einzeln zählt – also Seitengassen, Innenräume und so weiter. Tatsächlich sind es weit weniger.
Nun, die Anzahl der Schauplätze mag letztendlich überschaubar sein, nicht aber der Wust an Gegenständen, den Tina und SAM-53 überall einsammeln. Man muss sie kombinieren und überall ausprobieren, um voranzukommen, was ganz schön viel Zeit und Geduld in Anspruch nimmt, weil keine sekundären Werkzeuge zur näheren Untersuchung zur Verfügung stehen. Man kombiniert nach Instinkt. Jedenfalls solange man noch nicht kapiert hat, in welche Richtung das Spiel strebt.
Den Entwicklern ist das bewusst, darum haben sie zwei Schwierigkeitsgrade implementiert. Im niedrigeren darf Tina ihren Robo-Begleiter nach Hinweisen fragen. Seine Antworten sind nicht immer besonders aufschlussreich, aber zumindest ein Schubser in die richtige Richtung. Will man allerdings das volle Ende des Spiels erleben, so sollte man darauf verzichten.
So ganz ohne Hilfestellung hätte der Spielablauf womöglich frustrierend ausfallen können, wäre da nicht der hohe Schauwert jeder Szene. Tina und ihr Roboter legen Animationen an den Tag, die viele 3D-animierte Kinderserien locker übertreffen, und bewegen sich stets vor wunderbar gezeichneten, ausgeklügelten 3-D-Hintergründen, welche die inzwischen häufig anzutreffende Cel-Shading-Grafik nie in die Extreme treiben. Der oft freundlich ausgeleuchtete, mit Wasserfarb-Nuancen geschmückte Zeichenstil spiegelt Tinas ungebrochenen Optimismus wider. Das wirkt ungemein ansteckend. Egal wie oft man die wenigen verfügbaren Schauplätze besucht, man genießt den Aufenthalt und geht immer wieder davon aus, doch noch ein Detail übersehen zu haben, weil man zuvor nachlässig war.
Leider stimmt das nicht immer. Das liegt weniger an der Präsentation des Umfelds als am unglücklichen Layout des HUDs. Um genau zu sein, stört die Position und der Aufbau des Inventars ein wenig, da er am unteren Bildschirmrand befestigt wurde. Aufgrund der unzähligen Utensilien und deren Kombinationsmöglichkeiten neigt man dazu, das Inventar permanent geöffnet zu lassen, und so überdeckt es das ein oder andere Detail dauerhaft. In einem konkreten Fall sogar den Pfad zu einer Straße voller neuer Hinweise.
Erzählenswert
Abseits dieses einen Mankos macht Encodya so ziemlich alles richtig, sofern man den klassischen Genreregeln zugeneigt ist. Das Interface beschränkt sich auf das Nötigste, die Laufgeschwindigkeit der Helden lässt sich durch Doppelklicks erheblich beschleunigen, benutzbare Objekte stechen gut aus der hintergründigen Szenerie heraus und die Puzzles sind gewitzt, ohne an logischem Zusammenhang zu verlieren. Im ersten Moment überwältigen viele offene Baustellen natürlich ein wenig. Man fragt sich permanent, wo man etwas übersehen hat. Nicht selten bringt dann ein einziger Gegenstand eine ganze Kette an Lösungen ins Rollen, sodass einem die Logik wie Schuppen von den Augen fällt.
Als Belohnung für den Aufwand winkt oft eine schöne, vollanimierte Zwischensequenz, in der Tinas Geschichte weitergestrickt wird - was mitunter herzerweichend sein kann. Das hält nicht nur das Interesse am Schicksal der beiden Freunde aufrecht, es füllt auch den Spielfluss weit besser als bei anderen Genrevertretern, siehe etwa das durchaus gelungene, aber unterm Strich doch eher träge Trüberbrook aus dem Jahr 2019. In letzterem hielt man bei jedem Schauplatz lange inne, ohne einen bedeutenden Schritt vorwärts in der Erzählung zu machen. Erst zum Schluss fügte sich alles zusammen.
Encodya versorgt euch dagegen regelmäßig mit kleinen Story-Happen und Anmerkungen erzählerischer Natur. Der Fortschritt erhält dadurch natürliche Kapitel, die einer Abgrenzung durch aufgezwungene, zeitlich unpassende Stinger oder ähnliche Stilmittel entbehren. Insgesamt fünf Abschnitte ergeben sich so, mit einer Spielzeit, die freilich von eurem Geschick abhängt, aber allemal ordentlich ist.
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