Test - Before your eyes : Das Spiel mit Blinzel-Steuerung. Ja! Echt jetzt!!
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In den letzten Jahren entwickeln sich Videospiele immer mehr zum Medium für interessante Geschichten. Zu einer Erzählform, in der der interaktive Anteil linearen Medien wie etwa Filmen oder Büchern die Schau stiehlt. Before Your Eyes von Skybound Games schafft das mit einem Wimpernschlag.
Es gibt Momente im Leben eines Menschen, in dem ihm gewisse komplexe Zusammenhänge plötzlich und unvorhergesehen klarwerden. Solche Momente, in denen die Würfel des Universums allesamt auf dieselbe Seite zu fallen scheinen, nennt man Epiphanie. Das Problem an der Sache ist nur, dass man die Erkenntnis, die man gewonnen hat, selten in derselben Intensität an andere weitergeben kann. In den Wirrungen der Sprache gehen Details verloren, werden wichtige Segmente im Licht vermeintlicher Trivialität heruntergespielt oder gar ignoriert. Durch manche Pforten der Wahrnehmung müssen Menschen selbst treten, um dieselbe Erkenntnis zu gewinnen.
Anderen Leuten Erkenntnisse dieser Art durch eine geschickte Verpackung zu offenbaren, gilt seit jeher als hohe Kunst. Dieses Erlebnis, wenn es am Ende eines Buchs oder eines Films Klick macht, wenn ein Musikstück hinter all seinen einfachen Noten und typischen Textzeilen eine Botschaft verbirgt. Langsam, aber stetig erreichen immer mehr Videospiele dieses Erzählniveau, und ähnlich wie andere Medienformen verwenden sie dazu geschickt eingeflochtene Stilmittel.
Before Your Eyes ist eines dieser Spiele. Genialerweise nutzt es als Stilmittel genau das, was Menschen im Alltag als Realitätsfilter ersehen, nämlich die eigene Perspektive. Zum Spielen benötigt ihr nicht mehr als einen PC samt Maus und eine Webcam, die genau beobachtet, wann ihr eure Augen schließt, denn euer Wimpernschlag bestimmt einen großen Teil der Interaktion.
Wer blinzelt, verpasst etwas
Before Your Eyes erzählt die Geschichte eines Verstorbenen namens Benjamin. Das Jenseits manifestiert sich für ihn als großes Gewässer, das er zusammen mit einem chimärischen Fährmann auf einem Boot überquert. Bevor er endgültig Ruhe finden kann, soll Ben dem Fährmann die Geschichte seines Lebens erzählen – und genau das ist der Inhalt des Spiels. Man rekapituliert also ein ganzes Leben anhand gewisser Schlüsselmomente, die man stets aus der Ego-Ansicht beobachtet.
Perspektive ist das Alpha und Omega dieses Spiels. Sogar so weit, dass nicht einmal die komplette Umgebung einer Szene gezeichnet wird, sondern nur das, was Ben als wichtig und erinnernswert erachtet. Vor allem in seiner frühen Kindheit klaffen immer wieder große Lücken in der sehr einfach gehaltenen, aber durchaus charmanten Comicgrafik, die nicht immer einen fehlenden Teil seiner Erinnerung manifestieren, sondern auch Entscheidungen und Prioritäten. Wobei gewisse Elemente später auftauchen, etwa wenn seine Eltern Stichworte fallenlassen oder wenn der interaktive Anteil der Erinnerung die Offenbarung eines neuen Erinnerungs-Fragments erzwingt.
Der Clou dabei ist, dass man sich zwar mit der Maus umsehen und in begrenztem Maße mit Gegenständen interagieren kann, das Gros der Handlungen allerdings durch den eigenen Wimpernschlag signalisiert wird. Dazu zeigt man mit dem Mauscursor auf Augen-Symbole, die in der Umgebung eingeblendet werden, und blinzelt. Eure Webcam erkennt das Blinzeln (sofern ihr sie korrekt ausgerichtet und kalibriert habt) und startet entweder die Interaktion oder schaltet sogar in eine komplett neue Ansicht um.
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Warum ein Augenschlag und kein simpler Mausklick? Nun, es mag trivial klingen, aber mit diesem Stilmittel garantieren die Macher hundertprozentig, dass ihr gerade genau jene Umgebungsanteile anschaut, denen die größte Bedeutung zukommt. Noch dazu steigern die Designer eure Aufmerksamkeit durch einen fiesen Trick. Sobald nämlich ein Metronom eingeblendet wird, schließt euer Wimpernschlag die aktuelle Szene und leitet die nächste ein. Selbst dann, wenn eine Szene noch gar nicht voll ausgespielt wurde. Um kein Detail oder gar wichtige Informationen zu verpassen, zwingt man sich als Spieler regelmäßig, die Augen offen zu halten.
Gar nicht so einfach bei einem derart automatischen Reflex. Man wünscht sich oft Streichhölzer zwischen die Augenlider, kann einen Wimpernschlag manchmal jedoch selbst mit großer Mühe nicht verhindern, daher beendet man regelmäßig Szenen ungewollt. Man verpasst das Ende einiger Gespräche, liest Briefe unvollständig und so weiter, wodurch einige wichtige Hinweise verlorengehen, die Entscheidungen zuträglich sein können.
Entscheidungen in einer Erinnerung an ein bereits gelebtes Leben? Ja, das ist der interaktive Anteil des Abenteuers, und er kommt aus einem Grund zustande, der in diesem Review ein arger Spoiler wäre, darum wird er nicht verraten. Nur so viel sei gesagt: Ben hat das Bedürfnis, ein wichtiges Leben zu führen. Das Leben eines Künstlers, der im Leben seiner Eltern – besonders seiner Mutter – einen hohen Stellenwert einnimmt. Aber er geht von Voraussetzungen aus, die gar nicht zutreffen, und so kommt alles anders, als er es sich ausmalt.
Freundschaft, Pflicht, Karriere
Before Your Eyes beschreibt eine bemerkenswerte Reise, die trotz der überaus simplen Comic-Grafik und wenig echter Interaktion überzeugend dargestellt wird und auf emotionaler Ebene bewegt. Ben ist mal am Klavier zugange, mal an einer Leinwand, mal an einer Schreibmaschine oder an einem Telefon, aber man bestimmt nur in sehr groben Zügen, was genau er mit diesen Werkzeugen anstellt, weil das gar nicht Sinn und Zweck des Spiels ist. Weder Geschick noch künstlerisches Talent stehen zur Disposition. Aufgabe des Spielers ist es, Bens Schicksal auszuloten, herauszufinden, was ihm wichtiger ist. Freundschaft oder Karriere? Pflichten der Mutter gegenüber oder ihre Nähe?
Bens Lebens-Flashback besteht zwar nur aus kurzen Episoden, aber es sind meist einschneidende Erinnerungen, Entscheidungen am Scheideweg oder Schicksalsschläge mit Nachwirkung. Die Gefahr, dabei im Kitsch zu versinken, umschifft Skybound Games durch exzellente englische Sprecher (samt deutschen Untertiteln) und sinnvolle Gespräche ohne Schnörkel. Wobei das Motion Capturing einiger Figuren ebenfalls zum Tragen kommt, obwohl es angesichts der Grafikqualität an Overkill grenzt. Nicht zuletzt der Fährmann im Jenseits profitiert stark von subtilen Bewegungen und seiner gut gespielten Gelassenheit. Wie viel das zur Glaubhaftigkeit des Abenteuers beiträgt, merkt man erst, wenn Bens Abenteuer eine Wendung nimmt, die emotional berührt.
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