Test - Wizardry: Proving Grounds of the Mad Overlord : Der Urgroßvater von Baldur’s Gate kann noch immer wunderbar Zeit vernichten
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Final Fantasy war 1981 noch nicht einmal ein Blitzen in den Augen seiner zukünftigen Erfinder, als Wizardry das Licht der Welt erblickte - das erste Computer-Rollenspiel, das die Regeln der berühmten Pen-and-Paper-RPGs Dungeons & Dragons erfolgreich für ein neues Medium adaptierte. Inzwischen hat das Genre buchstäblich Welten des Fortschritts durchlebt, aber dennoch traut sich der Retro-Spezialist Digital Eclipse, das Original beinahe unverändert neu aufzulegen. Schmeckt dieser uralte Wein in neuen Schläuchen?
Die Antwort auf diese Frage hängt sehr stark vom Kontext ab. Fragt euch selbst: Wie verbunden seid ihr dem Rollenspiel-Genre? Oder besser gefragt: Spielt ihr RPGs des Spielsystems wegen, sodass ihr auf eine ausschweifende Handlung verzichten könnt? Kennt ihr womöglich das Original noch oder zumindest die erheblich später nachgelieferte Super-Nintendo-Fassung mit ihren zusätzlichen Dungeon-Stockwerken?
Könnt ihr überhaupt etwas mit rundenbasierten Kämpfen anfangen? Wenn ihr zumindest eine dieser Fragen bejaht, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass euch Wizardry noch unterhält, statt euch mit altertümlichen Regeln und der fast völligen Abstinenz einer Story zu Tode zu langweilen.
Retro-Kult mit einem Haken
Es ist nicht einfach, das Erlebnis mit einem so alten RPG-Opa schmackhaft zu verpacken. Digital Eclipse (u.a. Turtles Cowabunga Collection und Disney Classic Collection), ihres Zeichens Großmeister der Emulation und angesehene Remastering-Künstler, geben sich alle Mühe, Wizardry wie ein halbwegs modernes Spiel aussehen zu lassen. Eine neue Kerker-Ansicht mit echter 3D-Grafik, frische Menüs, flinke Ladezeiten und ein netter (wenn auch nicht überragend auffälliger) Soundtrack verkleiden den Spielablauf. Unter dieser Fassade läuft jedoch der Original-Code, dessen Ursprungsgrafik vom alten Heimcomputer Apple II sogar als Overlay eingeblendet werden kann.
Doch auch der schönste neue Schlauch kann das Bouquet eines alten Weins nicht verändern, was gerade bei einem derart alten Spiel kaum Grauzonen in der Bewertung zulässt. Das hat weniger mit dem Titel an sich zu tun als vielmehr mit der Natur von Retro-Videospielen. Wenn man alte Filme schaut, blickt man oft auf mehreren Ebenen in die Zeit ihrer Entstehung zurück. Man sieht Schauspielerinnen und Schauspieler in ihren besten Jahren, erfährt, welche sprachlichen und kulturellen Eigenheiten als politisch korrekt akzeptiert wurden und sieht zugleich, welche Techniken beim Dreh und in der Postproduktion möglich waren.
Alte Computerspiele sind in dieser Hinsicht weit weniger aufschlussreich, weil sie mehr technischen als kulturellen Restriktionen unterliegen. Soll heißen: An Super Mario Bros. oder Giana Sisters lässt sich dreimal eher „Moore‘s Law“ festpinnen als an Ronald Reagans Amtszeit. Und das wird umso eindeutiger, je weiter man in der Zeit zurückgeht. Noch weniger lässt sich die Grenze des damals Machbaren bei den Spielregeln erahnen. Was konnte man Gamern früher zutrauen? Wie viel Zeit waren sie bereit, in ein Spiel zu investieren?
Das erste Wizardry-Rollenspiel beweist beispielsweise, dass die Bereitschaft zur Vertiefung weit größer war als viele heutige Spieler hinsichtlich der damals vorherrschenden Arcade-Kultur glauben. Nur weil Pac-Man und Donkey Kong damals die lukrativsten Münzschlucker mit fünf Minuten Halbwertszeit waren, galt dies noch lange nicht für den heimischen Sektor, der sowieso viel weniger von grafischen Vorzügen zehren konnte als von spielerischen Qualitäten.
Selbst jemand, der Wizardry in- und auswendig kennt, muss für einen besonders schnellen und effizienten Durchlauf (ohne Mogelei und Hilfen) rund 90 Minuten einplanen. Im Vergleich zu Arcade-Hits wie Defender oder Robotron ist das eine halbe Ewigkeit. Neulinge suchen sich derweil Tage, wenn nicht gar Wochen durch dieses eine große Labyrinth, das es zu durchstreifen gilt, und müssen dabei auf viele Annehmlichkeiten moderner Genrevertreter verzichten.
Ein Dungeon, eine Aufgabe, ein Ziel
Mit der nun erschienen Neuauflage Wizardry: Proving Grounds of the Mad Overlord, die neben einem modernen grafischen Anstrich und ein paar technischen Optionen originalgetreu den Spielablauf von damals widerspiegelt, kann man als Neueinsteiger also durchaus mehrere Abende verplanen. Ob diese Abende so spaßig sind wie mit einem modernen RPG, steht allerdings auf einem anderen Blatt.
Eine wichtige Voraussetzung dafür ist eine Affinität für jegliche Art von Retro-Rollenspiel mit Rundensystem – also für Zahlenschieberei mit Statistiken und Zufallswerten. Ein Hang zur Videospiel-Ursuppe ist dagegen nicht vonnöten, denn noch bis in die Neunzigerjahre hinein kopierten Computer-und Konsolen-Rollenspiele das von Wizardry etablierte System. In einigen Spielen übernahm man es gar bis ins kleinste Detail – siehe etwa Shining in the Darkness auf dem Mega Drive oder Swords and Serpents auf dem NES, klassische PC-Dungeon-Crawler wie The Bard’s Tale und Might & Magic sowieso.
Dreh- und Angelpunkt des Abenteuers ist eine Stadt samt Taverne, Tempel und Item-Shop, die als Startgebiet und Rückzugsort gleichermaßen dient. Hier stellt ihr eine sechsköpfige Kampfgruppe zusammen, die ihr entweder aus bestehenden Charakteren rekrutiert oder eigenhändig aufbaut. Menschen, Elfen, Zwerge und Halblinge gehen ihrer Profession als Kämpfer, Magier, Priester und Dieb nach und können dabei guter, neutraler oder böser Gesinnung sein. Bedient ihr euch bereits existierender Charaktere, dann starten sie auf Erfahrungslevel zwei; erschafft ihr sie selbst, dann beginnen sie auf Level eins.
Egal wie eure Kampfgruppe letztendlich aussieht, es gibt nur ein Ziel: das zehnte subterrane Stockwerk eines Labyrinths zu erreichen, dessen Zugang im Zentrum der Stadt liegt. Dort haust der Magier Werdna, der euch ein magisches Amulett gestohlen hat. Mit seinen langen Fluren, die man aus der Ego-Perspektive sieht, erinnert das Dungeon-Labyrinth an frühe First-Person-Shooter. Doch wird hier nicht geballert, sondern schrittweise marschiert, um Schatztruhen zu plündern, geheime Gänge offenzulegen und feindliche Monstertruppen zu bekämpfen.
Der Plan eines Durchmarschs in die zehnte Sub-Ebene wäre allerdings arg optimistisch, denn dafür fehlt es euch an Erfahrung und Ausrüstung. So begebt ihr euch eine Weile in die finsteren Gänge, plündert und schlachtet so gut es geht und kehrt dann wieder um, damit ihr euch in der Stadt heilen, besiegte Mitstreiter wiederbeleben und bessere Ausrüstungsgegenstände kaufen könnt.
Wo der Staub liegt
Mit jedem neuen Anlauf dringt ihr tiefer in das Labyrinth vor, trefft auf zunehmend stärkere Gegner und erhaltet bessere Beute. Ein klares System mit logischer Progression, nicht wahr? Denkste! Kenner wissen nämlich, dass Wizardry verdammt hinterhältig sein kann. Abseits gewisser Pflichtkämpfe in vorbestimmten Räumlichkeiten begegnet ihr fiesen Trollen, Untoten, Schleimmonstern und anderen Widerlingen zufällig. Daher könnt ihr gar nicht genau planen, wie ihr reibungslos durch die Flure gelangt. Insbesondere auf dem Rückweg ins Dorf haut es euch ziemlich oft aus den Socken. Zwar lassen sich geheime Gänge hinter vermeintlichen Mauern entdecken, die euch Abkürzungen für Hin- und Rückweg gewähren, nur müsst ihr die erst einmal finden.
An sich eine unterhaltsame Angelegenheit, zumal auch Schatzkisten Fallen beherbergen können, die erst von einem Dieb entschärft werden müssen. Zudem garantiert die richtige Aufstellung der Truppe erhebliche Vorteile im Kampfverlauf. Robuste Kämpfer nach vorne, empfindliche Magier nach hinten. Ergibt Sinn, macht Spaß und ist für Genre-Fans auch noch lehrreich, weil man klar sieht, wo die Wurzeln einiger typischer RPG-Regeln liegen. Unterm Strich ist das nämlich alles Dungeons & Dragons in verdaulicher Form.
Für ein derart frühes Rollenspiel bringt Wizardry schon erstaunlich viel Raffinesse mit. Außerdem nehmen euch einige Modernisierungen ätzende Kleinigkeiten von damals ab. Beispielsweise müsst ihr den Namen eines Zaubers nicht mehr eintippen, um ihn auszuführen. Auch zeichnet das Spiel automatisch eine Übersichtskarte mit, die euch das Zücken von Karopapier und Bleistift erspart. Auf Wunsch könnt ihr das alles aber auch so pur und unverändert wie im Original angehen.
Allerdings ächzt ihr gelegentlich unter der Wucht einer Staubschicht, die weder der beschleunigte Spielablauf noch die erwähnten Verbesserungen wegwischen können. Da wäre unter anderem das Maximallevel der Spielfiguren, das in mancher Hinsicht beliebig, wenn nicht gar künstlich zurückgehalten erscheint, die regelmäßig krasse Überzahl an Gegnern, die eurem sechsköpfigen Trupp ans Leder will oder der schlichte Umstand, alle Spielzüge vor dem Ablauf einer Runde eingeben zu müssen.
Richtig gelesen: Ihr legt sämtliche Kampf- und Verteidigungskommandos für eine Runde fest, noch bevor der erste Schlag durchgeführt wurde. Nachträgliche Anpassungen als Reaktion auf einen gegnerischen Zug sind nicht möglich. Stirbt euch unverhofft ein Party-Mitglied weg, können Runden komplett in die Hose gehen, weil ihr dessen fehlende Aktionen nicht mehr kompensieren könnt. Wenn spielentscheidende Werte dann noch buchstäblich ausgewürfelt werden, statt wie in modernen Rollenspielen einer statusorientierten Tendenz zu folgen, kann der Frust ins Unermessliche steigen.
Auf alle, denen das übliche Final-Fantasy- und Persona-Geplänkel zu verweichlicht erscheint, weil Kämpfe vorhersehbar sind, könnte dieses Abtauchen in echte D&D-Regeln zweifellos erfrischend wirken. Aber es hat eben sein Geschmäckle, das sich vom Rundenkampf bis zu den sehr stark eingegrenzten Rüstungsoptionen für jede Klasse wie ein roter Faden durch das ganze Spiel zieht.
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