Test - Heaven‘s Vault : Eine neue Generation Adventure-Game
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Als Heaven‘s Vault im April 2019 für PC und PS4 erschien, entwickelte sich das ungewöhnliche Indiespiel unter Fans klassischer Point-n-Click-Adventure schnell zum Geheimtipp. Seine faszinierende Dieselpunk-Spielwelt, die fesselnde Geschichte, vor allem aber seine ungewöhnliche Rätselmechanik machen es absolut einzigartig. Da ich auf das Spiel seinerzeit erst ein paar Wochen nach seiner Veröffentlichung aufmerksam wurde und darum leider auch nie ein Test dazu auf Gameswelt erschien, nehmen wir die dieser Tage erscheinende Switch-Version zum Anlass, um euch dieses außergewöhnliche Spiel nahezubringen.
Am liebsten würde ich diesen Test damit beginnen, euch die außergewöhnliche Rätselmechanik von Heaven‘s Vault zu erklären. Doch wahrscheinlich würde ich viele von euch damit gleich wieder verschrecken, so wie das Spiel selbst vermutlich viele seiner Spieler in den ersten Minuten wieder verschreckt, weil es so ungewöhnlich und merkwürdig wirkt, mit nichts zu vergleichen ist, das es schon gibt. Auf Heaven‘s Vault muss man sich erstmal einlassen, ihm Zeit geben, sich und seine Vision zu erklären, einfach mal akzeptieren, dass man nicht vom ersten Moment an alles versteht, und sich stattdessen ganz allmählich aufsaugen lassen von seiner Atmosphäre und dem faszinierenden Universum.
Darum nehme ich euch erstmal genau dorthin mit: in die Welt und die Geschichte von Heaven‘s Vault, die mitnichten weniger faszinierend oder einzigartig ausfallen wie sein Spielkonzept. Ihr schlüpft in die Rolle der Archäologin Aliya Elasra, deren Beruf in der Kultur von Heaven‘s Vault als blasphemisch gilt. Denn dort glaubt man nicht daran, dass die Gegenwart das Ergebnis einer Jahrhunderte umspannenden historischen Entwicklung ist, sondern dass sich das Universum in einem ewig andauernden Zustand des Stillstands befindet, der von den Göttern geschaffen wurde.
Eine einzigartige Welt
Die Gesellschaft befindet sich auf einem technologischen Stand, der in vielerlei Hinsicht in etwa dem des 18. oder 19. Jahrhunderts auf der Erde entspricht, aber dennoch vereinzelt über futuristische Gerätschaften wie Roboter und Computer mit hochentwickelter Künstlicher Intelligenz verfügt. Während das herrschende Dogma diese Errungenschaften als Gaben der Götter ansieht, vermutet Aliya das Wirken einer hochtechnisierten Zivilisation dahinter, die vor langer Zeit einer kosmischen Katastrophe zum Opfer fiel und deren Ruinen und Hinterlassenschaften sie auf ihren Reisen erforscht.
So erkundet ihr nach und nach das gesamte Sonnensystem wie eine Open World, nicht jedoch auf einem blitzenden und blinkenden Sci-Fi-Raumschiff, sondern ihr durchquert das Weltall auf einem hölzernen Segelboot, das auf den ätherischen Flüssen zwischen den Planeten schwimmt. Die Welt von Heaven‘s Vault ist nur bedingt den physikalischen Gesetzmäßigkeiten unserer Realität nachempfunden, sondern gehorcht ihren eigenen Regeln. Genau wie die Gesellschaft, deren Zusammenhänge und Widersprüche ihr im Verlauf immer besser kennenlernt: die Arroganz der herrschenden Kaste auf dem Zentralgestirn, die Armut der ausgebeuteten Bevölkerung auf den bäuerlich geprägten Planeten im Randgebiet, die Herzlichkeit auf dem emsigen Basar eines Handelspostens.
Bereits das Aussehen von Aliya mit ihrem markanten Kopftuch deutet es an: Das Design der Welt von Heaven‘s Vault ist ganz und gar außergewöhnlich. Wann gab es schonmal ein Science-Fiction-Universum, das nicht lediglich als Projektion der weißen, westlichen Gegenwart in die Zukunft entworfen war? Heaven‘s Vault wirkt dagegen wie ein phantastischer Neuentwurf der orientalischen Kultur mit ihren kalkweißen Lehmbauten, den Spitzbögen und Kuppeldächern, farbenfrohen Ornamenten und weiten Kleidern. Heaven‘s Vault mutet dadurch in jedem Moment gleichsam vertraut und doch fremdartig an, authentisch geerdet und doch rätselhaft verwunschen, ohne dafür ständig die verkrampft um Originalität bemühten Klischees typischer Dieselpunk-Welten auffahren zu müssen.
Diese Welt zu bereisen und ihre Geheimnisse und Hintergründe zu enthüllen, gestaltet sich nach einer zwangsweise etwas spröden Eingewöhnungsphase als großer Genuss. Heaven‘s Vault lässt euch viele Freiheiten, zahlreiche große Entdeckungen oder wendungsreiche Enthüllungen fallen gar rein optional aus und offenbaren ihre Mysterien nur besonders aufmerksamen und hartnäckigen Entdeckern. Dadurch fühlen sie sich aber auch wie wahrhaftige Entdeckungen an und nicht wie Streckenposten einer erzählerischen Einbahnstraße, die irgendein Autor für jedermann vorgeteert und beschildert hat.
Heaven‘s Vault ist kein typisches Point-n-Click-Adventure, bei dem das korrekte Kombinieren von Gegenständen im Inventar den schrittweisen Fortgang der Geschichte auslöst. Es ist ein Spiel des Erkundens von jahrtausendealten Ruinen und Ausgrabungsstätten, vergessenen Gärten und zerfallenen Anwesen, aber auch belebten Siedlungen und geschäftigen Märkten, auf denen sich in den Gesprächen mit anderen Personen ungewöhnliche Geschichten entspinnen, mal bewegend, mal faszinierend oder auch mal erheiternd – nie aber wie man es von solcherlei Spielen gewöhnt ist im Verteilen von belanglosen Nebenquests.
Regelmäßig müssen in den Dialogen gar Entscheidungen getroffen werden, die mal kleine, mal größere Auswirkungen auf die Handlung nehmen können, vor allem aber auf subtile und unvorhersehbare Art dem Verhältnis zwischen Aliya und ihrem ständigen Roboterbegleiter Six Schärfe und Profil verleiht. Wie im Gespann Joel und Ellie aus The Last of Us oder Kratos und Atreus in God of War entfaltet sich ein Großteil der Handlung in den fortwährenden Gesprächen zwischen den beiden auf ihren meist eher einsamen Reisen durch unerforschtes Gebiet.
In diesen Unterhaltungen offenbart sich einmal mehr das große schreiberische Talent, das die britischen Entwickler Inkle bereits mit ihrem vorherigen Spiel, der exzellenten Interactive Novel „80 Days“, unter Beweis gestellt haben. Während Six anfangs noch als typischer Sidekick auftritt, der mit schnippischen Kommentaren für Erheiterung sorgt und als Hinweisgeber für die Rätsel fungiert, entwickelt sich aus dem brüchigen Verhältnis zwischen Zweckgemeinschaft und Misstrauen mit der Zeit eine vielschichtige Dynamik. Eigentlich soll Six als Aufpasser im Namen der Universität jeden von Aliyahs Schritten überwachen und sie bei drohenden Gesetzesüberschreitungen ermahnen.
Doch mit jedem gemeinsam überstandenen Abenteuer rücken sie in freundschaftlicher Verbundenheit enger zusammen, entwickelt Six eine persönliche Loyalität, die in Konflikt mit seinem einprogrammierten Gehorsam tritt. Mit der Zeit entwickelt sich aus den anfangs scheinbar harmlosen Geplänkeln ein vielschichtiger Diskurs darüber, welche Spezies – Mensch oder Roboter – der jeweils anderen überlegen ist und wer bei genauerer Betrachtung eigentlich wem dient, möglicherweise gar nicht gewahr, dass er sich in einem Abhängigkeitsverhältnis befindet, das an Sklaverei erinnert. Heaven‘s Vault enthält dadurch sogar einen überaus klugen und feinsinnigen Kommentar zu Rassismus und gesellschaftlichen Missständen.
Vor allem aber zeigt sich in den Dialogen zwischen den beiden auch, welch ungewöhnlichen Heldencharakter, genauer gesagt: welch einzigartig starke Frauenfigur Inkle mit ihrer Aliya Elasra geschaffen haben: voller Entdeckerdrang und unbeirrbarem Glauben an eine unpopuläre Wahrheit geht sie ihren eigensinnigen, möglicherweise auch leichtsinnigen Weg und stellt sich zunehmend gegen ein System, das vordergründig Toleranz und Güte ausstrahlt, aber dafür bedingungslose Gefolgschaft einfordert.
Außergewöhnliche Rätsel
Allein die Geschichte, Welt und ihre Charaktere wären es wert, Heaven‘s Vault zu spielen. Doch das faszinierendste an diesem Spiel ist seine ganz und gar einzigartige Rätselmechanik. In Heaven‘s Vault sammelt ihr keine Gegenstände wie Plunder ein, um sie an anderer Stelle einer leidlich logischen Bestimmung zuzuführen. Auch betätigt ihr keine Schalter in ausgeknobelter Reihenfolge oder setzt Zahnräder nach ihrer Größe sortiert in rostige Maschinen ein.
Stattdessen entziffert ihr die Hieroglyphen einer vergessenen Sprache einer untergegangenen Zivilisation an den Wänden uralter Ruinen, den Sockeln von Statuen und Beschriftungen antiker Apparaturen. Das klingt im ersten Moment höchst merkwürdig, trocken und nach allem Möglichen, nur nicht nach Spaß. Und in der Tat braucht Heaven‘s Vault eine ganze Weile, bis sich völlige Ratlosigkeit in eine Ahnung und schließlich Verstehen wandelt. „Hä? Wie um alles in der Welt soll ich denn da draufkommen?!“, ist die erste Reaktion beim Anblick der unbekannten Symbole, deren Bedeutung zu enthüllen das Spiel auffordert. Die ersten Versuche sind nicht viel weniger als pures Raten.
Doch nach einer Weile beginnt man ein System hinter dem anfänglich willkürlich scheinenden Gekritzel zu erkennen, entdeckt man bestimmte Zeichen wieder und ist in der Lage, Sinnzusammenhänge herzustellen, Querverbindungen zu ziehen und die ersten Übersetzungen zu vollenden. Dass die Inschrift an der Statue eines Gottes beispielsweise das Wort „Gott“ in auffälliger Weise enthält, dürfte nahe liegen. Wenn dieses am Eingang des Gebäudes daneben von einem Zeichen flankiert wird, das aussieht, als hätte der Gott ein Dach über dem Kopf, dann lässt sich daraus schlussfolgern, dass es sich hierbei womöglich um ein Wort für das Haus Gottes handelt, also eine Kirche oder ein Tempel. In Kombination mit der geschwungenen Linie, die jedem Verb vorangeht, wird daraus womöglich ein „beten“. Oder vielleicht doch eher „segnen“?
In dieser Art und Weise erschließt ihr euch nach und nach immer mehr Worte, kommt schließlich auch den immer komplexer werdenden Regeln von Syntax und Grammatik auf die Schliche. Was in der Theorie wahnsinnig trocken und sperrig klingen mag, entfacht schon bald eine mitreißende Faszination. Denn jedes erfolgreich entschlüsselte Wort und erst recht jeder vollständig übersetzte Satz bewirkt das erhabene Gefühl, gerade als erster Mensch dem Lüften eines jahrtausendealten Rätsels einer untergegangenen Kultur ein Stückchen näher gekommen zu sein. So ähnlich muss sich ein Archäologe fühlen, der in einer alten Pyramide die Botschaft eines unbekannten, längst verstorbenen Königs entziffert.
Habt davor keine Angst! Am Anfang mögen die Rätsel verwirrend und undurchschaubar wirken. Doch das Spiel lässt euch nicht hilflos und alleine im Regen stehen. Die Multiple-Choice-Auswahlmöglichkeiten zu jedem Wort lassen häufig allein über das Ausschlussverfahren die richtige Lösung erraten oder bieten zumindest eine vage Vermutung an. Habt ihr ein Wort mehrfach in verschiedenen Sätzen richtig identifiziert, bestätigt das Spiel eure Auswahl als korrekt. Dadurch erschließen sich wiederum nicht selten gleich mehrere zunächst lediglich geratene Wörter als Dominoeffekt hintereinanderweg. Auch das Aussehen der Schriftzeichen gewährt oftmals einen ersten Anhaltspunkt, da Hieroglyphen, zumindest ansatzweise, auch immer bildliche oder gegenständliche Darstellungen und Umschreibungen enthalten.
Das funktioniert so dermaßen gut und ist so klug und in sich logisch erdacht, dass ich am Ende des Spiels gar in der Lage war, diese unbekannte Sprache einer fremden Zivilisation nahezu flüssig zu lesen. Möglicherweise wird es nicht jedem so gehen. Sicherlich gehört ein gewisses Interesse und Verständnis für Sprache im Allgemeinen dazu, um sich auf dieses ungewöhnliche spielerische Experiment einzulassen. Wer dazu aber gewillt ist und nicht gleich aufgibt, wird von Heaven‘s Vault mit einer Erfahrung belohnt, die man nicht so schnell wieder vergisst.
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