Test - Ancestors: The Humankind Odyssey : Affig? Das neue Spiel des Assassin‘s-Creed-Erfinders polarisiert
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Patrice Désilets scheut keine Risiken. Im Jahr 2007 war er maßgeblich an der Geburt eines neuen Franchises für Ubisoft beteiligt, das – wie jetzt auch Ancestors – neue Wege ging, überaus ambitioniert war und mit einem unverbrauchten Setting auftrumpfte. Die Marke wurde in den Folgejahren (allerdings erst nach Désilets‘ unfreiwilligem Abgang) zu einer der bekanntesten und populärsten Spielereihen der Welt. Der Name des Spiels? Assassin's Creed.
Mehr als ein Jahrzehnt und diverse eingestellte Projekte später meldet sich der kreative Kanadier zurück. In seinem neuen Werk erfahren wir am eigenen Leib, was für Anstrengungen und Gefahren unsere fernen Vorfahren auf sich nehmen mussten, damit wir heute in gemütlichen Wohnzimmern sitzen und Videospiele zocken können.
In einem Land vor unserer Zeit
„Wir werden euch nicht viel helfen“, ist auf dem Bildschirm zu lesen, bevor das Spiel losgeht. Sechs Wörter, die Warnung und Verlockung zugleich sind. Wie auch die Primaten, die man im Spiel übernimmt, sind wir auf uns allein gestellt. Nur Erfahrung, Geschick und Intuition können uns davor bewahren, dass das Abenteuer Mensch endet, bevor es überhaupt begonnen hat. Schon das Intro zeigt anschaulich, in was für einer Welt wir uns zehn Millionen Jahre vor dem Beginn der Geschichtsschreibung befinden. Groß frisst klein, und nur die Stärksten überleben. Charles Darwin hätte seine helle Freude daran.
Bevor ihr euch in den Dschungel begebt, wählt ihr zunächst einen Namen für euren Stamm und legt fest, ob ihr mit oder ohne HUD und Tutorial spielen wollt. Wir raten euch aber in diesem Fall eindrücklich dazu, nicht auf das Tutorial zu verzichten. Ancestors ist gerade am Anfang ohnehin schon komplex und gnadenlos genug, da ist man über jede Hilfe dankbar. Ihr beginnt in der Rolle eines schutzlosen Säuglings, der eben noch mit ansehen musste, wie sein Elternteil vom Schnabel eines Riesenadlers durchbohrt wurde. In der unbekannten Wildnis müsst ihr nun zunächst einen Unterschlupf finden.
Der Einstein der Steinzeit
Dabei kommt eine Spielmechanik zum Einsatz, die fortan euer stetiger Begleiter sein wird. Mit der Funktion „Intelligenz“ könnt ihr die Gegend absuchen und damit Nahrung, Werkzeuge oder eben auch Verstecke aufspüren. Um eine heilsame Pflanze oder einen nützlichen Gegenstand quasi dauerhaft in eurem Primatenhirn abzuspeichern und wiederzuerkennen, müsst ihr diese zunächst jedoch analysieren. Trotzdem bleiben die Fundorte nicht dauerhaft gekennzeichnet. Ohne ständiges Scannen und Suchen geht in Ancestors nichts.
Die zweite immens wichtige Spielmechanik sind eure Sinne. Wichtige Geräusch- und Geruchsquellen werden durch sie hervorgehoben und können anschließend analysiert werden. So stoßt ihr nicht nur auf Tierkadaver oder von der Gruppe getrennte Primaten, sondern könnt die Umgebung auch nach Raubtieren und weiteren Gefahren absuchen. Denn Säbelzahntiger, Krokodile und weitere Megafauna warten nur auf die Gelegenheit für einen kleinen Snack.
Haben wir es als Babyaffe in das sichere Versteck geschafft, wechselt die Perspektive. Nun müssen wir uns als ausgewachsener Primat auf die Suche nach unserem Sprössling begeben. Hier geht das Spiel richtig los. Ihr startet in der der Ansiedlung eures überschaubaren Clans. Dort gibt es nicht nur reichlich Nahrung und frisches Wasser, ihr könnt auch mit anderen Mitgliedern der Sippe interagieren und die Verbundenheit mit ihnen verbessern, z.B. durchs gegenseitige Lausen. Wenn ihr wollt, könnt ihr jederzeit in die haarige Haut eines Artgenossen wechseln. Das Lager ist auch der einzige Ort, an dem ihr eure Talente dauerhaft weiterentwickelt.
Zeit zu Gen
Anfangs beherrschen die Primaten nur rudimentäre Fertigkeiten. Durch Erfahrung und Anwendung verschiedener Tätigkeiten lernen sie jedoch stetig dazu. Ein Beispiel: Zunächst könnt ihr von einem Busch nur einen Ast abbrechen und mit diesem nicht viel anstellen. Sobald ihr jedoch lernt, Gegenstände von der einen in die andere Hand zu nehmen, ist der Weg frei für die Erschaffung primitiver Werkzeuge. Kombiniert ihr einen Ast mit einem Stein, könnt ihr das Holz auf diese Weise von Zweigen befreien und einen stabilen Stock konstruieren. Dieser lässt sich dann wiederum dazu benutzen, um schwere Felsbrocken aus dem Weg zu hebeln und die köstlichen Pilze, die sich darunter verbergen, freizulegen.
Häufiges Klettern steigert die motorischen Fähigkeiten unserer Vorfahren, die Interaktion mit Artgenossen oder das erfolgreiche Verscheuchen anderer Tiere durch Drohgebärden und lautes Gebrüll verbessert die kommunikativen Kenntnisse. Die Aufnahme verschiedener Nahrung hilft bei der Entwicklung des Stoffwechsels. Ruht ihr am Lagerplatz lässt sich das gewonnene Wissen festigen. Das Skillsystem wird hierbei als ein neuronales Netzwerk dargestellt. Um den Zugang zu bestimmten Fähigkeiten zu erhalten, müsst ihr zuvor einen Knotenpunkt in der gleichen Hirnregion freigeschaltet haben. Erlerntes ist dann fortan für euren gesamten Clan verfügbar.
Evolution ist jedoch ein langwieriger Prozess. Habt ihr eine bestimmte Anzahl an Synapsen dauerhaft gefestigt, kann das Wissen an die nachfolgende Generation weitergegeben werden. Daraufhin erlebt ihr einen Zeitsprung. Die Kinder eurer Gruppe entwickeln sich zu Erwachsenen, tragen ihr Erbgut weiter in die Welt hinaus, sammeln neue Fähigkeiten und der Kreislauf wiederholt sich von vorn. Verschiedene Errungenschaften wie das Erschließen neuer Orte oder die Verbesserung des Metabolismus zählen zu den sogenannten evolutionären Leistungen. Durch sie könnt ihr auf Wunsch auch mehrere zehntausend Jahre in die Zukunft springen. Euer Erfolg wird dann anhand eines Vergleichs mit der wissenschaftlich nachgewiesenen Entwicklung unserer Vorfahren im gleichen naturhistorischen Zeitraum gezogen. Tode und Geburten spielen hier ebenfalls eine Rolle.
(Un)Natürliche Auslese
Jeder Primat besitzt die drei Grundbedürfnisse Hunger, Durst und Schlaf. Regelmäßige Nahrungsaufnahme und Nickerchen sind Pflicht. Die Vitalität der Affen richtet sich zudem nach der körperlichen Verfassung, Kondition und Lebenserwartung. Vergiftungen, Knochenbrüche oder Krankheiten haben gravierende Auswirkungen auf die Langlebigkeit und müssen durch rudimentäre Medizin geheilt und durch Schlaf auskuriert werden. Das Spiel überlässt es euch auch hierbei selber herauszufinden, welche Beeinträchtigungen auf welche Weise gemindert werden können. Bis ihr das komplexe System verstanden habt, wird so mancher Affe seinen Wunden erliegen oder vor Erschöpfung kollabieren.
Hinzu kommt die ständige Bedrohung durch andere Tiere. In der Regel ist es ratsam, sich in den Bäumen aufzuhalten, denn am Boden tummeln sich allerhand Gefahren. Jede Begegnung mit einer Raubkatze oder selbst einem übereifrigen Eber kann euer Ende sein. Deren Attacken auszuweichen, funktioniert selten wie gewünscht. Da kann man nur hoffen, dass sich die Kreaturen, die in der Nahrungskette über euch rangieren, gegenseitig vertilgen.
Die Angst vor dem Unbekannten
Bei den Streifzügen durch den Dschungel werdet ihr schon nach kurzer Zeit auf unbekannte Gebiete stoßen. Dies wird grafisch ziemlich clever dargestellt. Die Farbe entweicht und überall wähnt ihr die Präsenz von hungrigen Raubtieren. Haltet ihr euch zu lange in einem solchen Territorium auf, verfällt eurer Primat in Panik. Um dem entgegenzuwirken, müsst ihr die Umgebung nach vertrauten Elementen absuchen und so eurer Dopamin-Level oben halten, bis ihr eure Angst überwindet und das Gebiet fortan für eure Sippe in Besitz nehmt.
Meinen ersten Stamm raffte es allerdings schon dahin, bevor ich dessen Lebensraum signifikant erweitern oder den Sprung in die nächste Generation vollziehen konnte. Ein Affe wurde von einem Adler aufgespießt, zwei starben an Erschöpfung (ohne dass ich genau nachvollziehen konnte, warum), zwei fielen vom Baum. Letzteres ist vor allem der suboptimalen Klettermechanik geschuldet. Gerade für ein Spiel, in dem man eine Bande Affen kontrolliert und daher die Fortbewegung über das Geäst eine große Rolle einnimmt, fällt die Steuerung viel zu schwammig, ungenau und kontraintuitiv aus.
Die Affen sind nicht nur zu träge unterwegs, sie weigern sich oft auch, meinen Befehlen Folge zu leisten. Eigentlich sollen sich die Hominiden selbstständig an geeigneten Flächen festhalten, was aber oft nicht funktioniert und einen harten Aufschlag auf dem Waldboden zur Folge hat. Distanzen lassen sich kaum einschätzen, oft findet man sich auf einem Ast oder in einer Baumkrone wieder und hat sich in eine Sackgasse manövriert. Kaum zu glauben, dass hinter Ancestors ausgerechnet der Mann steht, der mit Assassin's Creed einst das Klettern in Videospielen salonfähig und frustfreie Spielbarkeit zum Erfolgskonzept machte.
Evolutionäre Hürden
Natürlich gehört ein gewisser Lernprozess zu solch einem Survival-Spiel dazu, aber Ancestors: The Humankind Odyssey macht es einem nicht leicht, aus dem Scheitern die Motivation für weitere Versuche zu ziehen. Als es meinen Clan komplett dahin gerafft hatte, startete ich mit einer neuen Sippe von vorne. Nun weiß ich, was zu tun ist, um meine Affen fleißig lernen zu lassen. Recht schnell habe ich den Sprung in die nächste Generation erreicht. Die mannigfaltigen Probleme bleiben dennoch bestehen. Vieles ist unnötig kompliziert, langatmig und hakelig.
Grafisch kann Ancestors leider ebenfalls nicht überzeugen. Die Vegetation sieht zumindest von den Baumwipfeln aus ansehnlich aus, doch gerade bei der Darstellung der Primaten fühlt man sich an die Figuren eines Wachsfigurenkabinetts erinnert. Auch deren Animationen wirken oft ungelenk oder sogar unfreiwillig komisch. Hinzu kommen Probleme mit der Kamera, die regelmäßig die Sicht einschränkt und bei vielen geskripteten Sequenzen im Blattwerk verweilt, anstatt das Geschehen vernünftig in Szene zu setzen. Die Soundkulisse passt hingegen und überzeugt mit dichter Dschungelatmosphäre und ebenso unaufdringlicher wie stimmiger Musikuntermalung.
Ancestors: The Humankind Odyssey will mir offensichtlich verdeutlichen, dass die Evolution kein Zuckerschlecken ist und es an ein Wunder grenzt, dass wir es irgendwie so weit geschafft haben, dass ich jetzt hier sitzen und diesen Text tippen kann. Aber bei all der Wertschätzung für den Mut und die Vision von Patrice Désilets und seinem Team haben sie leider vergessen, darüber hinaus ein gut spielbares und auf Dauer unterhaltsames Videospiel auf die Beine zu stellen.
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