Test - Closer the Distance : Dieses Spiel simuliert eine ganze Stadt und erzählt dabei eine emotionale Geschichte
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Closer the Distance ist ein höchst ungewöhnliches, ja, außergewöhnliches Spiel gar. Im Kern mag es sich dabei um eine Art Adventure handeln, also ein Spiel, das seinen Fokus auf das Erzählen einer Geschichte legt und auf die Aufgaben, die damit verbunden sind, um sie voranzubringen. Gleichzeitig ist es aber auch eine Lebenssimulation, in der ihr die Bedürfnisse und Wünsche der verschiedenen Charaktere berücksichtigen müsst. Vor allem aber ist Closer the Distance auch die Simulation einer kompletten Stadt, in der jeder einzelne Bewohner seinen Tagesabläufen, seiner Arbeit und seinen Hobbys nachgeht.
Fangen wir aber einfach mal mit der Geschichte an, um all den verschiedenen Bestandteilen einen Rahmen zu geben. Die Schwester der jungen Conny ist tot. Sie kam bei einem Unfall ums Leben und hinterlässt ihre Familie in tiefer Trauer, die sich wie eine dunkle Wolke über die gesamte Bevölkerung der Kleinstadt Yesterby zu legen scheint. Jeden der Bewohner trifft der Schicksalsschlag wie ein Schock, und jeder versucht auf andere Weise mit dem Verlust umzugehen und allmählich einen Weg zurück zur Normalität zu finden.
Denn vor nicht allzu langer Zeit ereilte das beschauliche Küstenstädtchen schon einmal ein ähnlicher tragischer Fall, der Wunden hinterließ, die nie ganz verheilt sind und nun wieder aufreißen. Während sich Connys Vater in die Arbeit stürzt, um den Schmerz zu ertragen, versinkt die Mutter in Selbstmitleid und verbringt ihre Zeit nur noch auf dem Friedhof mit der Pflege des Grabs. Der Freund der Verstorbenen schmiedet schon seit Langem Pläne, das Kaff zu verlassen, das ihm nun verflucht scheint, findet aber in seinem Kummer nicht mehr die Kraft zum ersehnten Neuanfang. Im Versuch, den Trauernden eine Stütze zu sein, opfert sich die Ärztin des Dorfes auf und verliert dabei ihre eigenen Sorgen aus dem Blick, die sie nach und nach in die Knie zwingen.
Es ist offensichtlich: Closer the Distance erzählt eine Geschichte über Trauer, deren Bewältigung und die Bedeutung von Gemeinschaft, um sich gegenseitig durch schwierige Zeiten zu begleiten. Es erzählt aber auch eine Geschichte über Veränderung und die Angst davor: Am besten sei wieder alles so, wie es einmal war, ist ein Satz, den die Bewohner von Yesterby häufig aussprechen. Doch Veränderung ist unausweichlich. Und erfordert Mut. Oder zumindest die Bereitschaft, sich ihr zu stellen.
Denn während die einen trauern, setzen die anderen all ihre Hoffnung in einen Neuanfang für das verschlafene Städtchen am Meer. Ein Strandhotel soll künftig Touristen nach Yesterby locken und wirtschaftlichen Aufschwung verheißen. Doch formiert sich Widerstand unter dem Teil der Bevölkerung, der die Idylle und Harmonie durch die Touristenströme gefährdet sieht. Angesichts der aktuellen Demonstrationen auf Mallorca erfährt Closer the Distance auf diese Weise fast schon eine unbeabsichtigte tagespolitische Brisanz.
Eine komplett simulierte Kleinstadt
Die Art und Weise, wie ihr diese Geschichte mit ihren immerhin 13 Protagonisten erlebt, ist das eigentlich Außergewöhnliche an Closer the Distance. Denn ihr seid quasi live dabei, während das Spiel das Leben der gesamten Stadt Yesterby komplett simuliert. Ihr könnt jederzeit an jeden beliebigen Ort springen, zwischen den einzelnen Charakteren wechseln und beobachten, was sie gerade tun. Im Grunde kann man sich das wie ein großes, von selbst ablaufendes Open-World-Wimmelbild vorstellen.
Dabei gehorcht ihr Verhalten nicht nur geskripteten Routinen wie morgens aufstehen, zur Arbeit gehen und abends wieder heimkommen, sondern einem Algorithmus ähnlich einer Lebenssimulation wie Die Sims, das individuelle Bedürfnisse und Wünsche berücksichtigt: Hunger und Müdigkeit etwa, aber auch deutlich abstraktere Sehnsüchte wie das Verlangen nach menschlicher Gesellschaft, Anerkennung für die eigene Leistung oder schlicht Entspannung und Ausgeglichenheit.
Ihr selbst spielt zunächst nur Conny, die Schwester der Verstorbenen, erhaltet aber im späteren Spielverlauf nach und nach die Kontrolle über gleichzeitig bis zu fünf Einwohner Yesterbys, mit deren Hilfe ihr das Schicksal der niedergeschlagenen Dorfgemeinschaft hoffentlich besseren Zeiten zuführt.
Was im ersten Moment wahnsinnig kompliziert und restlos überfordernd wirkt, erweist sich nach kurzer Zeit im Gegenteil als höchst clever und intuitiv umgesetzt: Prinzipiell könnt ihr zwar jeden einzelnen Einwohner von Yesterby zu jeder Zeit auswählen, ihn beobachten, sein komplettes Profil mit ausufernden Statistiken und Zahlenwerten einsehen, mit nahezu jedem Gegenstand interagieren und alle erdenklichen Aufgaben erteilen. Doch hinter der anfänglich überkomplex scheinenden Fassade erweist sich Closer the Distance im Gegenteil als eher sanfte, gemütliche Erfahrung, deren emotionale Wucht seiner immerhin ja recht schweren Themen um Trauer und deren Bewältigung nie durch übermäßige Abstraktion des Gameplays oder gar Stress im Umsetzen der Aufgaben im Wege steht.
Die Sims als Adventure-Tragödie
Closer the Distance nimmt euch spielerisch nämlich viel Arbeit ab, die ansonsten den Spielfluss und vor allem die gefühlvolle Erzählung nur behindern würden: Sobald irgendwo etwas Wichtiges passiert – sich z.B. zwei Charaktere unterhalten oder jemand eine Aufgabe abschließt – pausiert das Spiel automatisch und lässt euch in Ruhe dem Geschehen beiwohnen, ohne dass ihr ständig fürchten müsst etwas zu verpassen, nur weil sich eure Aufmerksamkeit gerade einem anderen Ort der Spielwelt widmet. Anders also als im thematisch ähnlich gelagerten Wayward Strand, in dem der Reiz genau darin bestand, dass man eben nicht überall gleichzeitig sein konnte und sich dadurch Verzweigungen im Geschehen zwangsweise auftaten.
Auch die Verteilung der Aufgaben an eure Charaktere verliert sich nicht im Klein-klein eines Point-n-Click-Adventures. Stattdessen könnt ihr jeder Person längerfristige Aufgaben zuteilen, die diese dann erledigt, während ihr gemütlich zuschaut oder irgendwo anders nach dem Rechten seht. In diesem Punkt ähnelt Closer the Distance auffallend Spielen wie Die Sims, Animal Crossing oder ganz entfernt auch Aufbauspielen wie Die Siedler, nur eben mit einer sehr starken narrativen Komponente.
Denn wenngleich es nicht eigentlicher Sinn und Zweck des Spiels ist, versucht man nebenher auch stets die Abläufe zu optimieren, schaut man zum Beispiel schnell noch bei der Nachbarin auf einen Plausch vorbei, wenn man ohnehin gerade in der Nähe ist, weil man geholfen hat die Wäsche aufzuhängen, oder nutzt die Zeit vor dem Abendessen lieber für ein Gespräch mit der Oma anstatt Gitarre zu üben, weil die alte Dame früh zu Bett geht und das andere auch danach noch erledigt werden kann.
Auch handelt es sich bei den Quests nicht um klassische Adventurerätsel, die das Geschehen aufhalten, bis euch die richtige Lösung einfällt. Eher spiegeln sie allesamt als Tätigkeiten das Streben der Charaktere nach Normalität und Nachbarschaftshilfe wider: So schickt ihr Conny los, damit sie ihrer Mutter beim Binden eines Kranzes für den Grabstein hilft, während ihr Freund Zek seinen Vater, den örtlichen Tischler, beim Bau des Bootshauses unterstützt. Oder ihr lasst ihn stattdessen lieber für den Mathetest büffeln, damit er sich seinen Traum erfüllen kann, ein neues Leben in der Großstadt zu beginnen. Denn abhängig von euren Entscheidungen und den Prioritäten, die ihr setzt, lenkt ihr das Schicksal der Bewohner Yesterbys stets auch Stück für Stück in dezent unterschiedliche Richtungen, unterstützt ihre geschundenen Seelen bei der Heilung, helft ihnen loszulassen und Veränderung zu akzeptieren. Oder macht es ihnen dabei unnötig schwer.
Dabei dürft ihr aber auch nie euer eigenes Wohlergehen außer Acht lassen. Regelmäßiges Essen und ausreichend Schlaf bilden lediglich die Grundvoraussetzungen. Conny als introvertierte Persönlichkeit benötigt regelmäßig Zeit für sich allein, um beim meditativen Nähen oder Lesen die Batterien wieder aufzuladen und die auf sie einprasselnden Eindrücke zu verarbeiten. River, die Tochter des Bürgermeisters, kämpft stets um die Anerkennung ihres herrschsüchtigen Vaters, während ihr die Verantwortung beim Bau des Hotels zusehends über den Kopf wächst. Und Ärztin Galya opfert sich so sehr in ihrer Rolle als Seelsorgerin für ihre Mitbürger auf, dass sie darüber nicht nur die Beziehung zu ihrer Freundin vernachlässigt, sondern vor allem auch nicht bemerkt, wie nahe sie selbst körperlich und geistig am Abgrund steht.
Schwere Kost, schwere Last für die Entwickler
Unschwer zu erkennen: Closer the Distance fährt in seinen 10-12 Stunden Spielzeit schonungslos die ganz schweren existenziellen Themen auf. Aber die erfordern nunmal ein ungemeines Feingefühl seitens der Autoren, um noch aufrecht auf dem schmalen Grat zu wandeln zwischen bewegendem Drama und trübsinnigem Kitsch, zwischen wahrhaftig anrührend und schlicht rührselig. Und wenngleich Closer the Distance nie vollends ins Wanken gerät oder gar stürzt, so fehlt ihm unterm Strich dann doch die schreiberische Brillanz und psychologische Tiefe eines großen Dramas.
Zu häufig erschöpfen sich die Dialoge schlicht im Bekunden der eigenen Traurigkeit und Antriebslosigkeit, sowie dem gegenseitigen Zusprechen von Mut und Durchhaltevermögen, wie es sonst eher charakteristisch für Seifenopern und seichte Melodramen ist. Sorgen und Konflikte werden stets ausschweifend ausdiskutiert statt sie elegant aus dem Geschehen heraus zu verhandeln. Offensichtliche Versuche der Entwickler, in Schlüsselszenen mit melancholischer Gitarrenmusik die Emotionalität von Life is Strange heraufzubeschwören, mögen für den Moment genau jene mitfühlende Besinnlichkeit erzeugen, bleiben im Rest des Spiels aber eher in der Behauptung stecken.
Dieser Eindruck verstärkt sich zusätzlich, weil sich jenes Muster eben auch im Quest-Design wiederfindet: Zwar zeigen sich die Entwickler sichtlich bemüht, ihre sensiblen Themen in den Aufgaben des Spiels aufzugreifen und somit nicht nur als Sujet der Geschichte voranzustellen, sondern sie auch im Gameplay zu spiegeln. Auffallend häufig münden sie aber in typischen Fetch-Quests (eine davon schickt euch gar buchstäblich auf Schnitzeljagd), deren simple Struktur sich eben oftmals sehr „videospielig“ anfühlt und so durch seine künstlich wirkende Beschaffenheit dem feinsinnigen Grundton des Spiels tendenziell entgegenwirkt.
Auch über den schlichten Grafikstil mögen sich Nörgler anfangs möglicherweise noch empören, schnell aber gerät dieser hinter den inhaltlichen Qualitäten des Spiels in Vergessenheit. Closer the Distance stammt schließlich von einem kleinen Hamburger Indie-Studio mit wenigen Mitarbeitern, die immerhin ein ganzes virtuelles Dorf samt Einwohnern erschaffen mussten und dies in Fotorealismus niemals auch nur annähernd zu leisten imstande gewesen wären.
Osmotic Games, so ihr Name, zeichneten im Übrigen bereits für das empfehlenswerte Indie-Juwel Orwell verantwortlich und holten sich für die Story von Closer the Distance Verstärkung bei Autor Kevin Mentz, der zuvor bei Daedalic die Geschichten zu A New Beginning und dem im Übrigen exzellenten Das Schwarze Auge: Memoria schrieb. Lobend hervorzuheben ist sicherlich noch die komplett deutsche Vertonung der Dialoge, was für ein derart kleines Indie-Spiel alles andere als selbstverständlich ist.
Für Freunde ungewöhnlicher Spiele und Serious Games mit ernster Thematik ist Closer the Distance jedenfalls trotz der genannten Kritikpunkte eine uneingeschränkte Empfehlung und kann möglicherweise auch hilfreiche Stütze im Falle einer eigenen Trauerbewältigung sein. Und allein das macht es schon wertvoll.
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